Zwiebelhäute der Unfreiheit

Wollen sie in einer Gesellschaft leben, in der Ihnen Haushaltsgeräte, etwa eine elektrische Zahnbürste, diktieren, wie lange sie putzen oder sonst etwas tun müssen? Sie können einwenden, man müsse nicht auf das kleine, scheinbar hilfreiche Feature achten, das im Falle des Geräts, das der Autor verwendet, alle 30 Sekunden vibriert und nach nur zwei Minuten mit einem etwas längeren Endrüttler zu verstehen gibt, dass man sein Soll erfüllt habe. Abgesehen davon, dass es sicher sinnvoller gewesen wäre, die Entwicklung kluger Akkus zu forcieren, als ein solches Gimmick einzubauen, ist das Ignorieren derartiger Gängeleien sowieso nur mit wenig Erfolg beschieden. Sie werden, da gehe ich jede Wette ein, unter solchen Putzbedingungen konditioniert, kontrolliert, strukturiert. Der Schreiber hier weiß, wovon er schreibt. Und wird wieder einmal an das kleine Foucaultsche Einmaleins der Disziplinar- und an Deleuzes Kontrollgesellschaft erinnert.

Wie lebt sich’s im gesegneten neufeudalen System unserer Tage? Mittlerweile sind wir vor allem Übel sicher. Die Geheimdienste beschützen uns vor plötzlich zuschlagendenden Terroreinheiten aus den finsteren Regionen des Planeten, denn sie haben Supercomputer und sehen uns, lesen uns, parsen unsere Äußerungen, werten Big-Data aus, entschlüsseln in Echtzeit und können ohnehin, mit Drohnen bewehrt, mit Allianzen in Soft- und Hardwareindustrie gesegnet, sehen was wir nicht sehen, und anstellen, was wir nicht wissen wollen. Beispielsweise diskret Taliban töten. Aber sollten wir dieses Gebaren und eigenmächtige Handeln, dieses Außerkraftsetzen der Unschuldsvermutung aller, jenes prozesslose Killen nicht anzweifeln? Wie kann es kommen, dass eine Gesellschaft, die auf der so genannten freiheitlich demokratischen Grundordnung basiert, keinen Mechanismus bereit hält, der dieses geheimdienstlich pervertierte Bild bürgerlichen Daseins wieder gerade rückt? Und – im Gegenteil – noch zulässt, dass Aufklärer (hier nicht im Sinne von U2 oder SR71 gemeint) zu Staatenlosen werden.

Morgens der Blick auf die Venus im klarsten Spätherbsthimmel. Und die Augen wandern über Dächer, Mauern, Bäume, Gärten in der Nachbarschaft. Alles ist still auf Erden. Oben ein V aus Gänsen. Schnatternd sammeln sie sich für den Abflug und picken noch einmal in Scharen in den Furchen der abgeernteten Felder an der Donau. Warum, so frage ich mich in diesem Augenblick des Scheinfriedens, lassen wir überzeugte Demokraten es zu, dass uns ein unkontrollierbarer Club von technophilen Gesellschafts- und Friedensfeinden vorverurteilt? Warum gestatten wir es diesen Verfassungsfeinden, Rechtsbeugern, Rechtsverbiegern eine Schattenherrschaft aufzubauen? Wer von euch nebenan erhebt die Stimme?

Später im Bus Richtung Stadt sehe ich die kleine Kamerahalbkugel unterm Himmel des Wagens. Und vorn links neben dem Lenkrad des Fahrers wäre auch der Bildschirm zur Überwachung des Fahrgastinnenraums zu beobachten, wenn nicht wieder so viele Fahrgäste mitführen, dass ich, mit dem Rücken gegen die hintere Tür gedrückt, in Schwitzen gerate und bei jeder kommenden Haltestelle erst einmal diesen Viehtransport verlassen muss, damit andere ein- und aussteigen können. Es ist schon ein merkwürdiges Szenario: Die Verkehrsmittel in Richtung Stadt kommen regelmäßig mindestens fünf Minuten zu spät. Was natürlich auch daran liegt, dass die Route in der Zeit gar nicht zu bewältigen ist – selbst wenn nicht an jeder Haltestelle gestoppt wird. Habe ich längst nachvollzogen.

Und dann schaue ich mich um und entdecke und höre, dass mindestens jeder zweite Mitfahrer unter 18 Jahre alt ist und zudem ein Smartphone „bedient“. Die Jungs spielen meist Ballerspiele, beschießen sich ridikül mit zweidimensional abgebildeten Feuerwaffen aller Art, in dem sie die Flächen der hochauflösenden Displays wie Colts in die Hand nehmen, aber so, dass der Konkurrent auf dem Nebensitz das knatternde Uzi-Geschehen natürlich verfolgen kann. Sie rennen durch Hit-and-run-Games oder traktieren die Nerven mit ihrer Musik, die aus ihren viel zu überdrehten Knopfhörern zirpt. Während die Mädchen, eher brav, aber schon lange nicht mehr „Ach!“ seufzend, in der Regel Kurznachrichten per Facebook oder SMS hin und herjagen. Selbstredend hören die Ladies auch Musik, aber leiser. Always ultra, always on. Jeder schaut auf in die Scheinfülle des verflachenden Displays. Der ewige Film spult sich ruckelfrei ab, denn ansatzweise haben die Geräte bis zur nächsten Betriebssystemsteigerung Leistung genug, um dem Beta-Stadium fürs Erste entkommen zu sein. Was jedoch zum Beispiel nicht funktioniert, ist das Aufrücken und Auffüllen der Leerräume im Gang, wenn die Karre mal wieder beinahe aus allen Nähten platzt. Der Busfahrer, dieser Lenker und Überwacher, schafft es nicht, den Passagieren zu bedeuten, dass es für alle Beteiligten ganz passabel wäre, wenn der freie Platz mitgenutzt würde. Passivität überall. Manchmal ist das richtig gruselig. Physisch scheinüberwacht vom Fahrer, der es nicht hinbekommt, sein Mikro in die Hand zu nehmen, um den jugendlichen Zombies ein wenig Kooperationsbereitschaft aufzuzwingen. Lieber fährt er anscheinend resigniert in die programmierte Verspätung. Und währenddessen digital sind alle „User“ überwacht von wem auch immer. Das Leben in Zwiebelhäuten der Unfreiheit.

Gilles Deleuze schreibt 1990 in einem kurzen Aufsatz über die Ablösung der Foucaultschen Disziplinargesellschaft durch die Kontrollgesellschaft: „Man braucht keine Science-Fiction, um sich einen Kontrollmechanismus vorzustellen, der in jedem Moment die Position eines Elements in einem offenen Milieu angibt, Tier in einem Reservat, Mensch in einem Unternehmen (elektronisches Halsband).“ Lassen wir die stark klassifizierende Ordnung (Hospital, Gefängnis, Arbeit, Schule), die Foucault entlehnt und aktualisiert wurde, außer Acht und ersetzen wir das elektronische Halsband durch Smartphone oder andere Devices, und schon sitzen wir wieder im Omnibus und lesen auf dem Mobiltelefon Texte über die Enthüllungen von Edward Snowden.

Aber Vorsicht. Kommt damit nicht alles in einen Topf? Das optische Überwachen, das Klägliche ihrer alltäglichen Erfolglosigkeit? Vermengt mit dem digitalen Schleppnetz, das sich an Überseekabel, Backbones und interne Firmennetze klebt, in Providern und Privatrechnern einnistet und nicht nachweisbar, weil strategisch-methodisch verschleiert – zu unserem Besten, versteht sich – gleichfalls erfolglos auf im Falle der NSA scheinbar 50 verhinderte Terrorattentate verweist, um ihre Daseinsberechtigung und unstillbare Gier vor der Öffentlichkeit mit Häppchen ihres Scheiterns zu garnieren? Alles ist der Verehrung der Naivität geschuldet. Alles was der Fall ist, muss auch berechenbar sein. Meine Zahnbürste rattert, und ich schaffe es nicht mehr, über die oktroyierten zwei Minuten hinauszuputzen. Es gibt gute Gründe, etwa den Zeitmangel. Die Monströsität der unterschwelligen Unterwanderung meiner Gewohnheiten erschüttert mich nicht mehr. Der Wandel ist längst vollzogen. Ich sitze tagsdarauf in einem Bus einer anderen Linie und schlage ein Buch aus Papier auf, weil dieser Bus unerklärlicher Weise freie Plätze aufweist. Lese Baudrillard, Virilio, Kittler und genieße ihre Übertreibungen, die mittlerweile historisch geworden sind und wie eine wohltuende Stimme aus der Vergangenheit den Appell an uns richten, dass wir uns gefälligst nicht zu wundern oder zu empören brauchen. Weil sich in den gegenwärtigen Aufdeckungen nur das in den Zeiten je verschieden changierende Spiel der spielerischen Perfidie einer nicht integrierten und nicht zu integrierenden Kaste zu erkennen gibt. Aber wie nur geht es weiter? Auch dafür gibt es Antworten: Denken sie eine beliebige mediale oder technische Neuerung. Sie wird okkupiert und garantiert nicht im Bürgersinn eingesetzt. Wollen wir es wirklich zulassen, dass es immer so weiter geht?