Das Produktive des bürgerlichen Kunstbegriffs

Wir müssen uns auf die Optionen der Kunst einlassen, damit wir nicht zugrunde gehen.

Kunst, ein Wort – nicht mehr. Eines der Wörter, die Probleme bereiten, passt es doch nicht in den ubiquitären Konsumgut- und Verwertungsmetabolismus unserer ganz und gar durchökonomisierten Gesellschaften. Kunst. Wir BürgerInnen haben uns daran gewöhnt, dass wir in die Ausstellungen, Theateraufführungen, Symphoniekonzerte, Musicals und was auch immer noch an möglichen Formen existiert, wandern, in der Hoffnung, dass ein mehrwertiger Geist auf uns niederkomme, sich in uns emaniere, um uns aus unserer zweiwertigen Logik von Verdienen und Verbrauchen für einen Moment zu erlösen. Aber bitte nur für den einen Moment, an dem wir Zeit dazu haben. Das ist das Erbe der guten Bürgerlichkeit, das wir nicht freiwillig antraten, sondern vor dem es kein Entrinnen zu geben scheint.

Kunst, das ist ein Wort, mit welchem wir aber glücklicherweise auch noch produktive Irritationen verbinden. Wir besuchen eine Stadt und gehen dort über eine Brücke. Wären wir nicht fremd, so würden wir dem uns schützenden Geländer wahrscheinlich keinerlei Beachtung geschenkt haben. So aber schauen wir durch einen Zufall, der unserer erhöhten Aufmerksamkeit als Fremder wegen geschuldet ist, nach links unten und bemerken, dass ein stählerner Ring zwei Streben des Geländers miteinander auf groteske Weise zu verbinden trachtet, obwohl es hierzu keines Anlasses bedarf. Der Eingriff ist simpel und intelligent – formal stringent die materiellen Gegensätze, wie die enorme Dicke des Rings im Verhältnis zur Fragilität der Streben an der Potsdamer Brücke in Berlin. Der Überhang des Rings zum Gewässer verhindert schmerzhafte Kniestöße, vielmehr jedoch bringt er den Betrachter ins Grübeln, warum sich der Ring nicht nach unten neigt, warum er so und nicht anders in seiner Position verbleibt. Norbert Radermacher, der mit dieser Arbeit (Der Ring, 1985) in den Stadtraum in der Nähe des Kemperplatzes intervenierte, reißt uns auch über die paradoxe Relation zwischen der vom Rezipienten erwünschten Erfüllung einer Funktion, die es aber nicht gibt, obgleich es die Materialanmutung verheißt, und der sichtbaren, sofort eingängigen Funktionslosigkeit aus unserer kleinen Welt, die von der Kausallogik des «Was bringt mir das? Was soll das?» bestimmt ist. Die formalen Relationen zwischen der realen Brücke und ihrem gitterstabartigen Geländer bildet einen vielfachen, sofort eingängigen Kontrast zu dem Ring. Dick, massiv und doch aus der Fassung, klebt er offenbar seiner wirklichen Funktion beraubt, an diesem Platz, für den er zu klein und zu groß gleichermaßen ist. Zu klein, denn er brauchte noch eine Reihe von Ringen, um gegen das lange Geländer und die Größe der Brücke einen Proporz darzustellen. Zu groß, weil er diesen kleinen Teil des Geländers, den wir ausschnitthaft sehen, wenn wir diese Arbeit entdecken, mit seiner Last erdrückt. Ein Kontrapost, der ein anderes Gleichgewicht spiegelt, als die klassischen Statuen der Antike. Das ist unser Gleichgewicht: Das Paradoxe und das Funktionale halten sich die Waage.

«Wir haben die Kunst, damit  wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen.» Diesen Satz aus Bronzebuchstaben findet man auf der gleichnamigen Arbeit von Marie-Jo Lafontaine (1993). Das Werk erinnert seiner Gestaltung nach entfernt an einen Epitaph. Sie besteht aus fünf gleich großen Holztafeln und ist viermeterzwanzig breit, einenmetersechzig hoch. Die fünf gleichgroßen Rechtecke sind farblich rhythmisiert: zwei Felder Bordeauxrot außen, dann zwei grüne, in der Mitte wieder ein rotes, in dessen unterer Hälfte der zitierte Satz aufgebracht wurde. Heute müssen wir uns fragen, ob das nicht für beinahe jedes Medienereignis gilt. Wir haben die Gameshow, damit wir nicht an unserer Wahrheit zugrunde gehen, denn unsere Wahrheit ist die Verdammung zu Konsumerismus und Wachstum. Das Unheimliche unserer Gesellschaften ist natürlich ihre Ausdifferenzierung in zahllose Subsysteme. Wir reden weiterhin wider besseren Wissens über «Deutschland», «Europa» und meinen damit unbewusst eine Mannigfaltigkeit schlechthin, die mit jenen Signifikanten nicht mehr sinnvoll bezeichnet werden kann. Und wir lassen diese nicht zu, trotz unserer spätbürgerlichen Kunstbegriffe, die uns eines Besseren belehren. Dagegen und deswegen haben die nach Flusser so benannten diskursiven Medien die Rolle des kapitalgenerierenden Opiats in unserer Zeit übernommen. Menschen sind wie sedierte Schwämme mit Chipstüten vor der Glotze – so das gängige Klischee. Das Fernsehen im Speziellen ist die Maschine, welche aus uns nicht nur passive Aufnehmer macht, sondern zugleich auch die Rückkopplung an das Wertesystem der Gesellschaft propagiert, nämlich über Werbung und wenn’s der Europäischen Union nach gehen soll, auch durch Schleichwerbung.

Die Ironie von Lafontaines Arbeit entgeht uns bei diesem semantischen Quantensprung. Denn von welcher Wahrheit sprechen wir, wenn im Laufe der Interpretation die Erkenntnis reift, dass die Anordnung der Farbfelder den Modernismus konkreter Kunst karikieren? Wenn das Rot-Grün nicht eine Parteienkonstellation, sondern unsere egalisierende Farbblindheit des andauernden Bewertens ohne Kritik vorführt? Was ist unsere Wahrheit in einem solchen Ensemble?

Kunst – das ist ein Etwas, welches immer noch und auf der Basis der Erfahrung unserer bürgerlichen Geschichtlichkeit dazu in der Lage ist, unsere Wertmaßstäbe und unser Verhalten in Frage zu stellen, und dabei lässt sich zudem noch Lust empfinden. Und der wesentliche Vorteil der bildenden Kunst liegt darin, dass wir selbst das Tempo und die Tiefe zulassen, mit der wir rezipieren und unsere Verhältnisse zur Gesellschaft überdenken können und wollen, oder auch nicht. Als Radermachers Eingriff sehender oder ignorierender Flaneur am Kemperplatz ebenso wie als Besucher in der Ausstellung vor Lafontaines Gedenktafel. Daraus kann nur eines folgen: Wir müssen die Optionen der welt- und werterschütternden Kunst zulassen und uns auf sie einlassen, damit wir an der Wahrheit der konsumeristischen, kriegerischen, verblödenden, selbstzerstörerischen, langweiligen Eigenheit unseres Daseins nicht zugrunde gehen. Erst dann sind wir eventuell dazu in der Lage, zwischen verantwortungsvoller Kunstrezeption und verantwortungsloser Mediensedierung zu differenzieren und souverän die Verantwortung über uns selbst in und für unsere Gesellschaft zu übernehmen.

Erscheint in Freitext Nr. 9, www.freitext.com

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