Watch the Watchers

Vortrag vom 4. Mai 2014 im Rahmen der Wissenschaftlichen Frühjahrstagung über «Totalüberwachung und Demokratieanspruch» der Politisch-Philosophischen Akademie RES PUBLICA – Für eine tragfähige Gesellschaftsform, Villa Alpha, Alf/Mosel: Es drängt sich gegenwärtig die Frage nach dem sinnvollen Tun angesichts der undemokratischen Praktiken der Geheimdienste auf. Kurz nach den ersten Veröffentlichungen von Edward Snowden warf Jörg Heiser den Kulturschaffenden vor, sich nicht adäquat der Situation zu stellen. Doch genauer hingeschaut: Es gibt seit vielen Jahren eine künstlerische Auseinandersetzung mit panoptischen Wahntaten mit scheinbar demokratischer Legitimität. In meinem Vortrag habe ich kamerabetonte Phänomene ins Zentrum gestellt, um herauszuarbeiten, wo der Unterschied zwischen künstlerischem und aktivistischem Handeln liegt.

Überlegungen zur Kunst der Überwachung

Ist die gegenwärtige Situation der potenziell und in Teilen bereits realisierten totalen Überwachung für einen einzelnen überhaupt noch auszuhalten? Welche Handlungsfelder und -optionen besitzt jeder von uns, um die Rechte der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zurückzufordern von denjenigen, welche diese scheinbar, zumindest jedenfalls aus deren Perspektive, mit einem Übermaß an Neugier zu verteidigen meinen? In einer Art Epitaph verewigte die französische Medienkünstlerin Marie-Jo Lafontaine den Satz Friedrich Nietzsches: «Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen.»1 Welche Funktion sollte Kunst mit Blick auf diese Gegenwart erfüllen? Ist Kunst ein Therapeutikum? Nietzsche und auch Lafontaine haben die Dimensionen der Aufhebung von Privatheit nicht erahnen können. Sicher, ein Trost ist es vielleicht, sich mit Kunst zu beschäftigen, doch sind die bisherigen Mittel adäquat? Bislang regieren in der Regel künstlerische Repräsentationslogiken. Ist das überhaupt noch zeitgemäß? Doch zunächst möchte ich einen Appell aufgreifen, der sich einer antiken Quelle verdankt und die Richtung weist, in welcher ich die zeitgenössische Kunst auf ihr Bewusstsein für die Problematiken zeitgenössischen Überwachens betrachten will. «Quis custodiet ipsos custodes?»2 Juvenal fragte danach, wer die Wächter selbst überwache. Der römische Satirendichter aus dem 2. Jahrhundert hatte allerdings Anderes im Sinn: nämlich den Sittenverfall seiner Gegenwart, in der unsittliche Frauen sogar die von den Männern bestellten Wächter verführten. Bewachen und Verführen beziehen sich in unseren Tagen auf andere Inhalte. Wer lässt sich verführen, auf Seiten der Überwacher tätig zu werden? Steigt die Zahl seit den Enthüllungen von Edward Snowden? Es ist sicher ein lohnenswertes Geschäft, das Gewissen und die rechtlichen Normen von Demokratien zu missachten. Auch und gerade für Firmen, die das technologische Equipment konstruieren und an die Geheimdienste verkaufen.

Das Zitat vom Beobachter, dessen Beobachtetes die Beobachter selbst sind, entlehne ich der künstlerischen Tätigkeit des spanischen Künstleraktivisten Daniel Garcia Andujar, der mit seiner fiktiven Firma «Technologies to the People» eine ganze Reihe verstörender Arbeiten produziert hat, von denen eben jene der überwachten Überwacher sich schon seit langem gegen die omnipräsente Ausspähkultur richtet. Dieses aus mehreren Werkkomplexen bestehende Konzept zielt etwa auf zivil gekleidete New Yorker Undercover-Polizisten, die Andujar in fotografischen Serien veröffentlichte, geradezu outete. Bereits Mitte der 1990er Jahre produzierte er Aufkleber, vier mal sieben Zentimeter klein, auf denen nichts als die Feststellung «Wir beobachten» sowie zwei schemenhafte Fotos von Überwachungskameras abgebildet waren. Diese kleinen Sticker konnten an jeden Laternenpfahl geklebt werden, konnten als Zeichen des Widerstands gedeutet oder als Appell von jedem Bürger im öffentlichen Raum gelesen werden: Was tust Du? Überwachst Du schon? Oder lebst Du nicht mehr? Damit einher ging die Verunsicherung darüber, wer denn da beobachtet und ob ich das Ziel der Überwachung sei. Klar, dass kein CCTV-Unternehmen oder die Polizei derartige Aufkleber produzieren lässt, denn das professionelle Beobachten ist schließlich ein diskretes Geschäft. Eine derartige Verunsicherung ist letztlich das ureigene Terrain der Kunst, hier in Form einer minimalen Intervention, an der jeder teilnehmen konnte, denn der Künstler verschenkte die Sticker im Rahmen einer Ausstellung.

Die Kunst, Überwacher ins Visier zu nehmen, hat eine gewisse, wenn auch nicht allzu bekannte Tradition. Faszinierend ist jedoch ein Zug an der hier zur Sprache kommenden Kunst, dass sie sich aus zwei, einander gegenüber stehenden Lagern bildet. Juvenal spricht von den verführenden Frauen. Übertragen wir das Beispiel, können wir folgende Struktur aus seinem Satz ablesen: Es gibt den «Gegenstand» der Überwachung, die untreuen Ehefrauen, die trotz Überwachung nicht einhalten mit ihrem unsittlichen Lebenswandel und es sogar hinbekommen, die Überwacher selbst in ihren Bann zu ziehen und das Mittel der Überwachung auf diese betörende Weise unschädlich zu machen. Dieser Vorstellung gewinne ich einen gehörigen Reiz ab. Es wäre wundervoll, Praktiken der Verführung zu besitzen, um die Überwachungsmaschinerie ins Leere laufen zu lassen. Doch welche Honey Pots muss man aufstellen?3 Leider ist mit Blick auf die digitale Kunstgeschichte die Situation eine grundsätzlich andere. Verführt werden Künstler in der Regel von neuen Technologien, die dann unreflektiert in den Werken in Aktion treten. Aus diesen Arbeiten spricht in der Regel eher eine Technikfaszination, und eine kritische, künstlerische Aktionsform lässt sich selten daraus gewinnen. Was kann unter verführten Künstlern verstanden werden?

In den 1990er Jahren widmeten zahlreiche Künstler – wie schon in den Jahrhunderten zuvor – den neuen Technologien. Es entstanden und verstärkten sich Hochschulformen, in denen Departments eine Verbindung zwischen Kunst und Technologie lehrten, vorzugsweise mit Blick auf Medien. Zu dieser Zeit war es längst nicht mehr das Video, sondern vielmehr der Computer als universelle Steuerungs- und Displaymaschine, die eine ganze Reihe von Künstlern faszinierte. Das führte zum Teil zu spannenden Allianzen zwischen Protagonisten der Computerindustrie, etwa Silicon Graphics (SGI), deren Unix-basierte Workstations schon damals in der Lage waren komplexe virtuelle Realitäten darzustellen. Wer sich heute auf der Company-Homepage umschaut, findet im Bereich des Tochterunternehmens SGI Federal, das im April 2000 eigens für Kunden der US-Regierung gegründet wurde, in der Hauptsache kriegerische Behörden, Kräfte der Staatsgewalt sowie entsprechende Unternehmungen: Air Force, US Army, Department of Homeland Security, Northrop Grumman, Lockheed Martin – und natürlich die NSA.4 Damals galten die extrem teuren Maschinen von SGI als das Nonplusultra des Computings. Und Künstler nutzten diese Geräte, so lange das Unternehmen den Kampf um Preis und Leistung halten konnte, der nach 2000 an die PC-Industrie verloren ging. Auf der Liste der kreativen Nutzer finden sich die Berliner Gruppe Art+Com, heute eher eine Agentur, Char Davies, Jeffrey Shaw, Christa Sommerer und Laurent Mignonneau. Zugriff auf die in die Zehntausende kostenden Flaggschiffe boten Institute, etwa das ZKM. So dass sich sogar ein abwertender Terminus bildete: «SGI Art». Lösen wir uns ein wenig von der Corporate Creativity und wenden uns den Technologien zu. Nehmen wir beispielsweise Webcams. Für diese kleinen Helfer, die heute in jedem Laptop stecken und die man besser abklebt, weil staatliche Spione es schaffen, die Kameras in Gang zu setzen, ohne dass das Aufnahmelämpchen Tätigkeiten signalisiert, entstanden nach 2000 eine ganze Reihe von Arbeiten, etwa das «Webcamprojekt» des Instituts für Mediengestaltung an der FH Mainz aus dem Jahr 2003. Einer dokumentierenden Publikation ging 2001 eine TV-Produktion mit dem Titel «Das Webcamprojekt – in 120 Minuten um die Welt» voraus.5 Menschen, über den gesamten Globus verstreut, wurden befragt, warum sie Webcams im Einsatz haben. Es gibt zwar ein Kapitel mit der Überschrift «Überwachung» (S. 18-23), jedoch spricht hier ein Gefängniswärter aus Phoenix, Arizona, der sich um Transparenz bemüht, weil er Rüffel von Amnesty International bekommen hat. Er sagt: «Warum sollte ich Cams anbringen, wenn ich kein Vertrauen zu meinen Mitarbeitern oder etwas zu verbergen hätte? Ich vertraue ihnen, ich tue nichts Falsches, und die ganze Welt kann mein Zeuge sein.»6 Der Ton der Herausgeber ist zudem sehr moderat. «Überall auf der Welt gibt es Menschen, die das Bedürfnis haben, Webcams aufzustellen … Jeder von ihnen ist sein eigener Sender», steht es im Vorwort mit dem bezeichnenden Titel «Poetische Pixel oder Bildwelten aus dem Internet». Gute Reise also durch die Aufzeichnungen über jene kamerabewehrten Exhibitionisten. Und vollkommen undistanziert heißt es zu guter Letzt mit einer Suggestivfrage: «Ist es nicht erstaunlich, von welcher ästhetischen Qualität diese kleinen Pixelbilder sind, welche poetische Kraft sie entwickeln?»7 Zwei Aspekte, typisch für die frühen 2000er Jahre, kommen darin zum Ausdruck: einerseits endlich die Erfüllung, selbst Sender werden zu können, um die Passivität des TV-Glotzers endgültig zu überwinden. Andererseits die Nobilitierung einer nur als tendenziös einzuschätzenden Pixel-Ästhetik, die sich schon seit geraumer Zeit als Mode entpuppt hat und nicht einmal mehr in der Werbeindustrie eine Rolle spielt. Mit keinem Wort werden jedoch die zahllosen Kameras im öffentlichen Raum angesprochen, die hinschauen, ohne dass wir es bemerken, die ggf. von Menschen gesehen werden, denen wir keine Erlaubnis zur Aufnahme von Bildern meiner Person und der Verwertung dieser Bilder gegeben haben.

Daraus lässt sich die Frage ableiten, ob eine bedingungslose Affirmation technischer Apparaturen auf einen ausschließlich positiv konnotierten künstlerischen überhaupt zu einer qualitativ überzeugenden Kunst führen kann. Ich behaupte, dass diese Art von Kunst dem Stadium einer Schießbude verhaftet bleibt und letztlich nur mehr als Anwendungsbeispiel für Verkaufskataloge dienlich ist, sofern jegliches selbstreflexive, über die eigentliche Funktionalität hinaus schreitende Moment ausgeblendet bzw. konzeptuell nicht eingebunden wird. Ein Beispiel, das bisweilen im Kunstkontext besprochen wird, belegt mit JenniCam welch weitreichende Folgen kamerabasiertes Überwachen auslöst. Heute nennt man das, was Jennifer Ringley von 1996 bis 2003 ins Netz streamte, Lifecasting. Zuerst stellte die damals 19-jährige Collegestudentin alle drei Minuten, 24 Stunden und sieben Tage in der Woche ein Foto des Blicks in ihr Zimmer ins Netz. Dabei spielte es für sie keine Rolle, bei welcher Tätigkeit sie selbst zu sehen gewesen ist. Als sie dann später erkannte, dass mit diesen Aufnahmen Geld zu generieren wäre, richtete sie Accounts ein. Für drei Monate waren 15 Dollar fällig, und das Mitglied bekam jede Minute ein frisches Bild. Nichtmitglieder hingegen nur alle 15 Minuten. Der Service wurde allerdings eingestellt, als Paypal keine Verträge mehr mit Anbietern von Nacktfotos abschloss. Überwachung mutiert in solch einem Setting unabhängig vom später eingesetzten Geschäftsmodell nicht nur einfach zu einer Befriedigungsform exhibitionistischer Veranlagung. Das Setting belegt zudem die komplexe Relation zwischen den impliziten Übereinkünften zwischen Voyeur und Exhibitionist, in der letztlich nicht mehr klar zu sein scheint, wer darin der Überwacher und wer der Überwachte ist.

In Sachen JenniCam geht es eher um soziologische Fragestellungen, denn für den Kunstkontext reichen Absicht und Tat jener Jennifer Ringley letztlich nicht aus. Man muss genau hinschauen, denn gelegentlich verdecken Kontexte den Blick auf künstlerisch relevante Strukturen. Ein Beispiel, in der das zunächst so erscheint stelle ich nun vor: Ken Goldberg installierte vom 1. bis 15. Oktober 2004 in Berkeley auf der Sproul Plaza eine telematisch steuerbare Webcam. Mit der Arbeit «Demonstrate» wollte der Künstler anlässlich des 40. Jahrestags an die Free Speech-Bewegung an der University of California (UCLA) erinnern. Studierende reagierten damit erstmalig auf Restriktionen politischer Betätigungsmöglichkeiten durch die Universitätsleitung. Über das Internet konnte der Benutzer diese Kamera kontrollieren, Bilder aufnehmen und in ein öffentliches Archiv speichern. Außerdem war es möglich, sich mit anderen Besuchern über die Bilder auszutauschen. In dieser Arbeit begegnet uns ein zwielichtiges Moment. Anders als im ersten Beispiel nimmt diese Installation Bezug auf ein historisches Ereignis, in dem die Machtverhältnisse ziemlich deutlich gewesen sind: auf der einen Seite Uni und Polizei, auf der anderen unterdrückte Studierende. Goldbergs Arbeit gestand jedem Internetnutzer eine Kontrollfunktion über die Kamera zu. Damit wird das, was normalerweise verborgen ist, öffentlich zugänglich. Die Überwachungsapparatur ging also zumindest symbolisch in die Hände der Bürger über. Diese Aktion symbolisierte in etwa eine Demokratisierung der Mittel, die herkömmlicherweise von administrativer oder polizeilicher Seite eingesetzt werden. «Demonstrate» bot all das, was normalerweise der Komplex der Überwachung nicht gestattet. Die Bilder werden nach einiger Zeit gelöscht oder verschwinden zu Beweiszwecken in Archiven. Dennoch bleibt beim Benutzer im Moment der Steuerung sicher ein gewisses Unbehagen. Denn der Aufbau konfrontiert ihn mit eben jenem historischen Platz und dessen Bedeutung geradezu mit dem Holzhammer, und das Steuern und Kontrollieren selbst triggert natürlich den Voyeur in uns. Und wenn wir diesen Impuls bemerken, feststellen, dass auf diese Weise sich nicht das Geschehen von damals kommemoriert werden kann, selbst wenn wir uns mit anderen Usern über die Bilder austauschen, bleiben wir im privaten Raum, und der verführt uns bisweilen tückisch zu einem Verhalten, das wir ansonsten in der Öffentlichkeit nicht an den Tag legen würden. Siehe JenniCam.

Von diesen, vielleicht noch traditionell zu denkenden Konzepten speist sich die Szene nicht allein. In zahlreichen Arbeiten geht es um reale Taten. Und man braucht nicht weit kunsthistorisch auszuholen, um herauszufinden, dass politischer Aktivismus in der Gegenwartskunst eine Hauptrolle mit Blick auf Innovationen spielt. Gerade in vergangenen zehn Jahren hat der Diskurs selbst die Institute des Mainstreams, große Museen etwa, erreicht. Vorläufiger Höhepunkt war hierzulande die Ausstellung «Global Activism» im Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM), die bis Ende März im Karlsruher Institut zu sehen war und das globale Geschehen zu kartografieren verstand. Die politische Stoßrichtung der Künstler, das zeigte die Schau, ist nicht minder weit aufgefächert wie der nichtkünstlerische Aktivismus. Womit allerdings auch die Frage aufgeworfen wurde, worin sich die künstlerische von der nichtkünstlerischen politischen Handlungsform unterscheidet. Wir kommen am Rande auf dieses sich stets stellende Problem angesichts neuer Kunstformen wieder zurück; Antworten ergeben sich aus den vorgestellten Beispielen. Gehen wir davon aus, dass die Enthüllungen Edward Snowdens nicht nur in den Medien weltweit eine erhöhte Aufmerksamkeit auf die alles zu erfassen strebende National Security Agency (NSA) erzeugt hat. Gehen wir weiter davon aus, dass künstlerischer Aktivismus mit Blick auf die Bedrohung der informationellen Selbstbestimmung, des Datenschutzes und der digitalen Souveränität demokratischer Staaten Stellung bezieht, ist zu fragen, auf welche Weise dies geschieht oder geschehen ist. In der ersten Phase, die ich betrachte, die 1990er Jahre, finden wir die Kernfragen bereits künstlerisch angesprochen.

Surveillance Camera Players

Die Gruppe Surveillance Camera Players (SCP) wurde von Bill Brown, Susan Hull und verschiedenen anderen vom Situationismus inspirierten Aktivisten in New York im November 1996 ins Leben gerufen, initiiert durch den Aufruf von Michael Carter für «Guerilla Programming of Video Surveillance Equipment» (1995).8 Dort heißt es programmatisch:

«Surveillance society, which is an imminent reality, must be critiqued and attacked concurrently. Guerilla programming is direct: it is a simultaneous exposure of the oppressive system and subversion of that system to inform the oppressors (and anyone else who may be watching us) of their own ridiculousness and complicity. As theory and practice must occur simultaneously, so must critique and subversion. Guerilla programming is go!»

SCP folgten einer einfachen wie charmanten Vorgehensweise: Sie führten Theaterstücke wie «Ubu Roi» von Alfred Jarry oder Samuel Becketts «Warten auf Godot» direkt vor den Überwachungskameras im öffentlichen Raum, etwa in U-Bahnstationen, auf. Außerdem adaptierten sie Klassiker dystopischer Romane, etwa George Orwells «1984» und verwiesen damit auf Verletzung des Rechts auf Privatsphäre durch Überwachungskameras. Bis zur Mitte der 2000er Jahre führten sie mehr als 40 Performances, meist in New York City, aber auch in anderen Städten auf. SCP wurde außerdem zu einem Vorbild, denn es gründeten sich «Filialen» in Tempe, Arizona bzw. San Francisco, Bologna, Stockholm sowie in Litauen. Bill Brown erklärte 2004 das Anliegen und die Strategie von SCP: «Wir versuchen, das ganze System zu unterwandern und zu benutzen, um eine Nachricht zu verbreiten, die dem System widerspricht. Eine Überwachungskamera strahlt das Signal aus: 'Benimm dich anständig!' Und wir benutzen die Kameras, um uns nicht anständig zu benehmen.» Interessant ist die Wortwahl: Niemand, der in ein Theater geht, würde auf den Gedanken verfallen, es sei per se in diesem geschützten Kulturraum unanständig, einen Beckett aufzuführen. Selbst wenn wir die Darbietungen nicht mögen, sind Straßenmusiker Bestandteil des täglichen Straßenbildes. Das heißt aber auch, dass der öffentliche Raum andere Regulative zur Einhaltung erwartbaren und damit «normalen» Handelns besitzt. Jedoch verkehrt sich diese Situation, wenn nicht sichtbare Menschen über telematische Anlagen zombiehaft präsent sind. Bill Brown erklärt weiter: «Ob es an einem Ort Kameras gibt oder nicht ist meist irrelevant, solange die Leute denken, es wären welche da. Eine Kamera kann auch eine Attrappe sein, und trotzdem ändern die Leute ihr Verhalten, weil sie meinen, sie würden gefilmt. Mit anderen Worten: Hier wird offenbar kein System eingerichtet, mit dem Verhalten kontrolliert werden soll, sondern eines zur Kontrolle des Bewusstseins. In George Orwells 1984 waren Verbrechen unmöglich, weil schon der Gedanke daran verboten war – und das scheint die Modellvorlage zu sein. Heute gibt es Gesetze, die kriminelles Verhalten unter Strafe stellen, aber zum Glück gibt es noch keine Gesetze gegen Gedanken und Absichten. Aber Überwachungskameras verschieben eben diese Grenze – nicht mehr ein bestimmtes Handeln wird illegalisiert, sondern auch ein bestimmtes Denken.» Damit ist letztlich schon alles beschrieben, was den potenziell beobachteten Menschen im öffentlichen Raum von demjenigen unterscheidet, der über einen Platz geht, auf dem keine Kameras platziert sind. Was sich theoretisch 1:1 auf unser Verhalten im Umgang mit dem Internet übertragen ließe.

Die Motivation der SCP verdankt sich übrigens einer Beobachtung, die andeutet, dass die Überwacher nicht ohne Erfolg agieren: «Die Überwacher haben nur dann Spaß an der Arbeit, wenn etwas Illegales passiert. Aber weil die Kriminalitätsrate unten ist und die U-Bahnen so sicher wie vor 30 Jahren sind, gibt es für sie immer weniger zu sehen. Und so haben wir also eine Gelegenheit und ein Problem. Die Gelegenheit ist, den Überwachern etwas anderes zu Sehen zu geben, als Sex und Gewalt. Und das Problem ist, dass ein gelangweilter Überwacher ein unaufmerksamer Überwacher ist. Und ein unaufmerksamer Überwacher ist eine Vergeudung von Raum, Zeit und Geld.» Und dann betrachten die Menschen hinter ihren Bildschirmen die Darbietungen der SCP und lassen sich vielleicht verführen wie die Wächter bei Juvenal.

Doch die Lage hat sich radikal verändert. Die pandigitale Systematik, mit der heute Daten gesammelt wird, lag zwar damals schon im Bereich des Denkbaren, doch Gewissheit über den Größenwahn der Aktivitäten von Geheimdiensten, allen voran der NSA, gibt es für die meisten Menschen erst seit Juni 2013. Und veranlasste Florian Mehnert zu der ironischen Arbeit «Abhörprotokolle aus den Wäldern». Richtmikrophone und kleine Apparate, Wanzen, die mit GSM-Technik ausgerüstet sind und das Mobiltelefon des Künstlers alarmierten, sobald es Geräusche gab, ergänzten Aufnahmegeräte, die sich nur ab festgelegten Dezibelwerten einschalteten, und schnitten mit, was da so passierte, wenn Tiere und Spaziergänger vorbei flanierten. Das Ergebnis: eine Sammlung von zusammenhanglosen Nonsens erster Güte.9 Heilsam ist das Lächeln über den auf diese Weise vorgeführten Wahnsinn der NSA.

Es gibt eine Form der Kunst, von der ich zu sprechen begonnen habe, der eine Vorreiterrolle zukommt, da sie sich nicht auf Displays, also auf Symbolisierungen gemäß künstlerischer Repräsentationslogik, also der Arbeit in Bildern, seien sie gemalt oder materiell symbolisch, konzentriert, sondern konkret handelnd in den öffentlichen Raum eingreift und bisweilen mit enormer Verstörungskraft die scheinbare Ordnung der Dinge durcheinander bringt. Malerei, Bildhauerei, Grafik etc. spielen also keine Rolle in dem von mir skizzierten und vorgestellten Randbereich zeitgenössischen Kunstschaffens, deren Künstler sich technischer Medien und Werkzeuge bedienen. Wenn hier von Installation die Rede ist, geht es eher um Betriebssysteme, denn um Einbauten künstlerischer Materialien in den White Cube einer Galerie oder eines Museums. Die klassischen Medien der Repräsentation sind Methoden und Praktiken der Intervention gewichen. Und hier erkennen wir, worin eine Kardinaldifferenz liegt: Denn diese Werke bedienen sich bisweilen derselben oder ähnlicher Technik wie die Akteure etwa in der Überwachungsindustrie. Wie aber kann Kunst «funktionieren»? Diese Frage werden wir ebenfalls kurz streifen, denn Medienkunst bedarf nicht nur anderer Beschreibungsverfahren – so muss man Kenntnis mitbringen, wenn Software eine Rolle spielt, um diese auch verstehen zu können –, wir verabschieden uns hier gleichermaßen von klassischen ästhetischen Kategorien. Diese sind nur mehr als Metaphern verwendbar, werden jedoch nur selten der Sache gerecht. So könnte vorsichtig formuliert werden, dass jene apparative Kunst in etwa derart funktioniert, dass sie mit der Technik strategisch kalkulierte Fehlanwendungen betreibt.

!Mediengruppe Bitnik

Julian Assange sitzt seit Juni 2012 in London in der Ecuadorianischen Botschaft aufgrund der prekären rechtlichen Situation, in der er sich befindet, quasi unter Hausarrest fest. Obschon ihm Ecuador politisches Asyl gewähren würde, kann er die Botschaft nicht verlassen, da er dann Gefahr liefe, von von den britischen Behörden inhaftiert zu werden. Gelegentlich erfährt man etwas über die Medien vom Schicksal des Mitbetreibers der Wikileaks-Plattform, über die beispielsweise die Dokumente, die Chelsea Manning akquirierte, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Ein solches Leben in einer Grauzone, in einer Art Niemandsland, ist schwer vorstellbar – ein Faktum, dass zugleich auf Edward Snowden und sicher noch weitere Whistleblower zutrifft. Es ist durchaus vorstellbar, dass man sich in so einer Situation vorkommt, als sei man lebendig begraben. Wie ist es jedoch aus der Sicht von außen? Falls man zu Herrn Assange Kontakt aufnehmen möchte, wie kann man sicher sein, dass die Post den Adressaten auch erreicht? Wenn ja, wird sie sicher geöffnet. Und leicht ist vorstellbar, dass derartige Primetargets auf jedem denkbaren Kanal abgehört werden. Die Schweizer !Mediengruppe Bitnik10, das sind im festen Kern Domagoj Smoljo (Jahrgang 1979) und Carmen Weisskopf (Jahrgang 1976) sowie die Mitglieder Adnan Hadzi und Daniel Ryser mögen sich gleichfalls diese Fragen gestellt haben, als sie im vergangenen Jahr «Delivery for Mr. Assange» auf den Weg brachten. Die Aktion dauerte 32 Stunden und fand vom 16. bis 17. Januar 2013 statt. Durch ein kleines Loch in der Wand eines Pakets dokumentierte eine Kamera die eigene Verschickung per Royal Mail. Es entstanden permanent Bilder, die in Echtzeit auf eine Webseite11 gespielt und über den Twitter-Account der Gruppe gepostet wurden. Damit konnte jeder über das Internet den Weg des sehenden Päckchens in Echtzeit verfolgen. Die Künstler sprechen über die Aktion als Experiment, um herauszufinden, ob die Sendung ihr Ziel erreichen würde: «Welche Route würde es nehmen? Würde es konfisziert werden?», fragten sie. Einige tausend virtuelle Zuschauer folgten der Reise durch diverse Verteilerzentren in verschiedenen Postsäcken. Heute noch kann man einen Teil der Bilder im Internet auf der Homepage anschauen. Im Rahmen der nachträglichen Reflexion der Betrachtung lassen sich die Kamerabilder und damit die Kamera empathisch als eine Extension des empathischen Betrachtersehens werten. Das wiederum nötigt zu einer Interpretation der Bilder selbst, die bisweilen klaustrophobische Wirkungen erzeugen. Ausschnitte geben die Sicht auf Korbgitter oder vorbei gehende Beine wieder, Schwärze – all diese Momente bedrücken mit dem Wissen, dass die Kamera sich in einer kleinen Box befindet. Keine Totale, sondern eine fragmentierte Außenwelt ist zu sehen. Ein eingesperrter Blick, der Willkür des Systems preisgegeben: der Blick eines eingesperrten Unterwegsseins.

Und dann kam das Paket tatsächlich in der Botschaft an. Nun lässt sich nach der Motivation fragen, warum Künstler sich überhaupt mit Überwachungssystemen auseinander setzen. Weisskopf und Smoljo habe ich zu dieser und weiteren Aspekten Fragen gestellt, die ich nun gern zitieren möchte.12 «Bei uns ist das irgendwie natürlich gegeben. Wenn Du den Computer, das Internet, Netzwerke als künstlerisches Medium nutzt, dann drängen sich diese Fragen auf. Wem gehört die Infrastruktur, wessen Services nutze ich aktiv, wo sind meine Daten gespeichert. Wo können welche Datenströme angezapft werden. Wer greift welche Daten wie und wofür aus dem Datenstrom ab? Und dann natürlich auch: Gibt's Alternativen zu Services, die mich überwachen bzw. meine Privatsphäre verletzen?» Im Grunde sind dies ganz selbstverständliche Fragen, die aus der Tätigkeit der Künstler als Benutzer von technischen Apparaten resultieren und die sich jedem von uns aufdrängen können. Darüber hinaus gibt es auch andere, eher private und vor allem aus der speziellen Tätigkeit und dem speziellen Ort Hochschule resultierende Hintergründe. Domagoj Smoljo beschreibt: «Carmen und ich haben uns 2000 an der Kunsthochschule in Zürich kennengelernt. Bitnik war zu Beginn eine lose Gruppe und vor allem der Name für einen Computer, einen Server den wir als trojanisches Pferd im Serverraum der Kunsthochschule versteckt hielten. Ein Linux-Computer der 24/7 lief und dauernd ans Internet angeschlossen war. Dadurch hatten wir plötzlich die Möglichkeit im Internet sichtbar und öffentlich zu werden. Diesen Computer, diesen Server haben wir dann dazu verwendet Netzkunst, Aktionen und Online-Performances zu produzieren. Eine der ersten Arbeiten war es, über eine gekaperte Telefonleitung und diesen Computer alle öffentlichen Telefone der Stadt Zürich gleichzeitig läuten zu lassen.» Der Künstler fasst all diese Aspekte auf abstrakterem Niveau zusammen: «Für uns war es also schon immer wichtig, die eigene Infrastruktur zu besitzen. Daraus erwächst auch eine Sensibilität gegenüber Kontrollregimes und Überwachungssystemen.»

Wie schon die SCP setzte sich auch Bitnik zunächst mit der Struktur der Überwachung des öffentlichen Raums durch Closed Circuit Television (CCTV), also Videoüberwachung, auseinander. Zur Fußball-EM 2008 in der Schweiz waren die Künstler als Nachbarn eines Fußballstadions direkt betroffen: «plötzlich Drohnen über unseren Köpfen». Das motivierte eine entsprechende Auseinandersetzung. Man fragt sich dabei, ob es für Künstler riskant ist, solche heißen Eisen anzufassen. Es gab bereits Klageandrohungen, etwa im Rahmen der Arbeit «Opera Calling»: eine Direktübertragung live per Wanze und Mobiltelefon aus aus dem Zürcher Opernhaus – natürlich unangemeldet und ohne Absprache. Man konnte eine Telefonnummer anwählen und dann den Arien etwa von Giacomo Puccini zuhören. Oder «UBS lügt» (2009), ein Re-Enactment einer Arbeit von Peter Weibel. Der stand 1971 unter dem Leuchtkasten einer Polizeistation und ließ sich mit dem hochgehaltenen Schild «lügt» ablichten. Bei den Bitniks war es ein Investmentbanker, der sich mit dem Schild vor einer UBS-Filiale fotografieren ließ. Beide Klageandrohungen wurden jedoch zurückgezogen.

Für die Erkenntnis von politischer Kunst ist es mir wichtig, mehr über die Motivation, derartige Arbeiten zu realisieren, herauszubekommen. Etwa mit Blick auf eine potenzielle appellative Struktur der Werke. Die Antwort der Schweizer ist überraschend: «Die !Mediengruppe Bitnik verfolgt keine politischen Ziele. Wir haben auch keine konkreten politischen Forderungen. Das einzige was wir als Künstler können, ist Diskurse anstoßen oder uns mit unseren Arbeiten in Diskurse einschalten.» Damit ist die wesentliche Markierung des gesellschaftlichen Subsystems Kunst bezeichnet: Diskurse anstiften, in Diskurse einschalten. Kein Programm, kein Manifest, das zu einer Geschlossenheit, zu einer Ideologie führen würde, sondern eine prinzipielle Sphäre der Offenheit, in der Werke realisiert werden, die notwendig aus den Viten der beiden Künstler entspringen. Und mit einem wundervoll aufschlussreichen Satz beschließt Domagoj Smoljo seine Erläuterungen: «Wir behalten uns hier aber auch das Recht vor, mit unseren Projekten scheitern zu dürfen. Aktiver Kontrollverlust sozusagen.» Die Bejahung eines möglichen Scheiterns und Kontrollverlusts schließt eine Gleichgültigkeit gegenüber der in politischem Handeln impliziten Effizienz ein. Das unterscheidet es von künstlerischem Tun. Das unterscheidet allerdings letzteres auch von dem erklärten Ziel der Überwacher. Denn deren Handeln ist – selbst wenn es bisweilen noch der Wunschtraum der Thinktanks, etwa mit Blick auf Quantencomputer und Datamining, ist – auf die totale Effizienz aller eingesetzten Mittel aus.

Nur nebenbei: Erinnert sie dieser Gleichgültigkeit gegenüber der Wirkungskraft nicht an den Kantischen Schönheitsbegriff einer zweckfreien Zweckmäßigkeit?13 Aber naturgemäß sind aktivistische Kunstwerke wie diejenigen der !Mediengruppe Bitnik keine autonomen Kunstwerke im kantischen Sinn. Doch ist hier ein Nebenpfad, auf den es sich sicher lohnt, einzubiegen – vielleicht ein anderes Mal. Vielleicht müssen wir uns erst einmal vor Augen führen, was die systemische Bedingung für ein solches Tun ist. Das Kunstsystem hält nämlich in seiner gegenwärtigen Prägung geschützte Räume vor, selbst wenn das System selbst als Ganzes nicht geschützt ist. Doch gelten Einschränkungen. Wie bereits angedeutet, riskieren die erwähnten Künstler zwar nicht unbedingt Kopf und Kragen. Doch Künstler zu sein, heißt längst nicht, den institutionalisierten Narren geben zu können. Und Arbeiten wie diese verstehen Richter im Fall der Fälle nicht unbedingt als Kunst. Medienkünstler agieren als Bürger selbstredend in denselben Diskursen wie jeder andere. Auf die Frage, ob wir paranoid, oder nicht paranoid genug sind, antworten die Bitniks: «In gewisser Weise beides. Zu paranoid um gegen die Zensurschere im eigenen Kopf zu anzukämpfen. Zu wenig paranoid, um konsequent eine selbstverwaltete, unabhängige und transparente Infrastruktur zu fordern. Die Zeit wird das zeigen.»

Ausklang

Ich habe Ihnen anhand von verschiedenen Kunstwerken bzw. kunstähnlichen Konzepten nur den Blick auf Videoüberwachung geworfen. Hinsichtlich der digitalen Überwachungsmnöglichkeiten ist dies sicher nur ein Medium, das jedoch gerade von bildenden Künstlern besonders häufig eingesetzt wird. Eine Kunstgeschichte der Rezeption aller Überwachungspraktiken steht noch aus. Ich habe außerdem darauf fokussiert, weil diese Arbeiten technisch die geringste Schwierigkeitsstufe bieten. Anders sieht es mit durchaus vorhandenen Werken aus, die sich etwa mit TCP/IP-Paketen auseinander setzen. Kurzum: Letztlich findet im Grunde jede Technologie Beachtung von Künstlern. Und deren je unterschiedliche Aufarbeitung ist umso wirkmächtiger, je nachhaltiger sie irritiert. Im Fall von «Demonstrate» als Verwirrung der Rollenzugörigkeit, bei «Delivery for Mr. Assange» als Experiment. Ich habe versucht, die Differenz zwischen Effizienz der Überwachung und dem Desinteresse der Künstler an derartigen Kategorien beschrieben, um eins der zahlreichen Differenzkriterien zwischen künstlerischer und staatlicher oder privater Überwachung anzubieten. Noch ist vielleicht nicht ganz deutlich, auf welche Weise sich jedoch diese Kunst von traditioneller, der Repräsentationslogik des Bildlichen verhafteten Kunst unterscheidet. Der großartige irische Künstler und Theoretiker Brian O'Doherty spricht mit Blick auf «Mile of String» von Marcel Duchamp, einer Installation von 1942, davon, dass er als erster den Galerieraum thematisiert habe und damit die ebenfalls ausgestellten surrealistischen Gemälde letztlich zu Inhalten eines Containers, der erst durch die Schnur bewusst wird, mutieren ließ: «Die Schnur machte Ernst und Wirklichkeit mit dem, was die Bilder dieser Ausstellung nur illustrierten», schreibt O'Doherty.14 Duchamp hatte eine extrem lange Schnur kreuz und quer durch den Raum gezogen. Boden, aber auch die Stellwände mit den Gemälden wurden von diesem Eingriff nicht ausgespart. Wir erleben an dieser Arbeit die Extension von Kunst in Form eines Überschreitens der ästhetischen Grenze des Rahmens, des Sockels hin zu einer Inkorporation des gesamten Raums. Dieser ist jedoch immer noch der etablierte Galerieraum, dessen Genese O'Doherty so wunderbar beschreibt. Nun ließe sich der Satz des Iren wie folgt aktualisieren: «Computer, Kameras und Code machen Ernst und Wirklichkeit mit dem, was Installationen, Performances oder Videos bisher nur illustrierten und in den geschützten Kunstraum einschrieben.» Denn das Surplus dieser Kunst, das hat hoffentlich sowohl mein Blick auf «Demonstrate» und «Delivery for Mr. Assange» gezeigt, ist ihre reale Funktionalität in Anwendung von Apparaten, die – wie Duchamps Schnur – sich nicht medial in Video, Malerei oder ähnlichen Praktiken zum Vorschein bringen, sondern aus Gebrauchskontexten des Alltags in diejenigen der Kunst verschoben werden. Das gleiche gilt auf der Ebene des Theaters mit Blick auf die Surveillance Camera Players. Das allerdings bedeutet gleichermaßen, dass die Rezipientensicht gleichfalls Revisionen und einer Öffnung unterworfen ist. Diese Künste werden es nicht schaffen, das politische Potenzial auszulösen, um breitenwirksam gegen das unrechtmäßige Verhalten der Überwacher vorzugehen. Sie sind jedoch wirksame Mittel, um bestimmte Teilaspekte aufzuführen und uns die Absurdität jener Hybris, alles zu aller Zeit mitschneiden und durchforsten zu können, auf je verschiedene Art und Weise vor Augen zu führen. Lassen wir uns also von ihnen verführen.

Anmerkungen

1 Marie-Jo Lafontaine: «Passages: Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen.» (1989).

2 Juvenal, Satire 6,347 f.

3 Honey Pots sind Köder-Server, mit denen man Angreifer anlockt, um ihr Verhalten zu studieren, damit man effiziente Gegenmaßnahmen gegen etwa Bot-Netze oder andere Computer-Cracks ergreifen kann.

4 S. http://www.sgi.com/company_info/federal/customers.html. Das Unternehmen residiert sinnigerweise am North McCarthy Boulevard des Städtchen Milpitas in Santa Clara County, Kalifornien. Ein Text auf der Homepage (15.08.2000, verfügbar über die Wayback-Machine des Internet Archive: http://web.archive.org/web/20000815062610/http://www.sgi.com/federal/index.html) erklärt: «SGI Federal, a wholly owned SGI subsidiary, provides world-class visualization and computing solutions ranging from visual workstations to scalable servers and high-end supercomputers. SGI Federal focuses on providing leading-edge information technology solutions to our U.S. federal government customers by partnering with federal system integrators and application providers. In addition, SGI Federal offers dedicated sales, support, professional services, and program staff, including cleared personnel, to better understand and develop solutions for the federal government.» Den ersten Abschnitt liest man heute noch quasi unverändert dort.

5 Uli Kern, Harald Pulch, Robin Sander, Markus Siegl, Daniela Thiel (Hrsg.): Das Webcamprojekt. Mainz (Institut für Mediengestaltung) 2003.

6 A. a. O., S. 18.

7 A. a. O., S. 5.

10 S. https://wwwwwwwwwwwwwwwwwwwwww.bitnik.org (Seitenabruf am 05.05.2014).

12 Alle folgenden Zitate stammen aus einer E-Mail der Künstler an mich vom 18.04.2014.

13 S. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hamburg (Felix Meiner Verlag) 1999, Erstes Buch, §10, S. 59: «Zweckmäßig aber heißt ein Objekt oder Gemütszustand oder eine Handlung auch, wenngleich ihre Möglichkeit die Vorstellung eines Zwecks nicht notwendig voraussetzt, bloß darum, weil ihre Möglichkeit von uns nur erklärt und begriffen werden kann, sofern wir eine Kausalität nach Zwecken, d.i. einen Willen, der sie nach der Vorstellung einer gewissen Regel so angeordnet hätte, zum Grunde derselben annehmen. Die Zweckmäßigkeit kann also ohne Zweck sein, sofern wir die Ursachen dieser Form nicht in einen Willen setzen, aber doch die Erklärung ihrer Möglichkeit nur, indem wir sie von einem Willen ableiten, uns begreiflich machen können.»

14 S. Brian O'Doherty: In der weißen Zelle. Berlin (Merve Verlag) 1996, S. 80.