Sprachlos im Status quo

Textstelle [1]: Wer gibt den Ausgegrenzten auf der Flucht eine Stimme? Klaus-Michael Bogdal konstatiert in seiner 2011 erschienenen literaturwissenschaftlichen Studie über die „Erfindung“ der Zigeuner, dass eine gewisse Form von Historizität und Bedeutung erst mit einer eigenen Sprache zugestanden wird. Das jedoch haben die flüchtenden Menschen in Not heute nicht, da sie aus ganz unterschiedlichen Staaten stammen und nicht mit „einer Stimme“ reden. Damit wird diese Sprachlosigkeit auch zur Waffe für diejenigen, welche versuchen, jene Menschen durch nautische Metaphern zu dehumanisieren.

“Die Sprachfähigkeit unterscheidet die Menschen grundlegend von der übrigen Schöpfung, und sie ist das Schlüsselwerkzeug für den Aufstieg zu den Höhen der Kultur. Nicht zuletzt fördert sie die Bildung von Nationen und bewahrt die Geschichte der Menschheit auf.”[1]

Klaus-Michael Bogdal hat diesen überaus trefflichen Satz in seiner literaturwissenschaftlichen Studie über die europäische „Erfindung der Zigeuner“ vor knappen fünf Jahren 2011 veröffentlicht. Die Textstelle findet man an einem Ort seiner anhand literarischer Quellen chronologisch aufgebauten Arbeit, der den Wechsel des damaligen wissenschaftlichen Denkens und Arbeitens in der Zeit der Aufklärung an der Schwelle zum 19. Jahrhundert markiert. In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts ergaben Forschungen, dass Romvölker eine eigene Sprache besitzen. Damit waren definierte Stereotypen – Bogdal listet sie akribisch auf – eigentlich obsolet. Noch wenige Jahre zuvor wurden sie benutzt, um die rein literarische Ausdeutung quasi-wissenschaftlicher Textstellenverknüpfungen zu legitimieren, die den Status quo festigten. Das waren Ergebnisse ohne jede empirische Kontrolle. Diese führten letztlich das bestehende, exkludierende System jener Alterität namens Zigeuner weiter und schrieben es nach altbewährter Weise fest. Führt man sich die Geschichte des Umgangs der Europäer mit einer alteritären Gemeinschaft vor Augen, denen niemals eine Chance zur Integration gegeben wurde (oder die wie in Spanien zwangsintegriert wurde), tauchen vergleichbare diskursive Exklusionsstrukturen plötzlich als Blaupause kultureller Praktiken auf, wie sie heute von Politikern aktiv und unter vorsätzlichem Einsatz des vollen Risikos und im Bewusstsein aller denkbarer Folgen in den Diskurs injiziert werden – scheinbar mit rechtlicher Legitimation durch die Wähler. Die Klage steht vor der Tür. Betrachtet man in diesem Feld die Redeweisen des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU), ist unter anderem auffällig, dass er der Bundesregierung, deren Bestandteil seine Partei ist, gebetsmühlenartig ein „Rechtsbruch“ vorwirft. Womit er übrigens nicht der einzige ist. Diese Rede kulminiert in der absurden Feststellung einer „Herrschaft des Unrechts“. Im Rahmen der dann stets angeschlossenen Vorschläge zur Abschottung der Bundesrepublik durch hohe Zäune ist es allerdings ebenso dehumanisierend wie beängstigend von „Fluten“ und anderen nautischen Metaphern zu reden, und es ist theoretisch spannend, festzustellen, dass Seehofer, übrigens unisono mit intellektuell wesentlich niederschwelliger operierenden Scheinoppositionellen a la „Pegida“-Demagogen oder kAfd, in einen Zustand der Voraufklärung zurückfällt. Kann er noch so häufig Fakten einfordern und Praktische Politik herbeiagitieren: Sein Reden missachtet grundsätzlich intellektuelle Standards der Gegenwart. Besonders deutlich wird dies, wenn das eingangs gegebene Zitat noch einmal gelesen wird und mit den heutigen Diskursfiguren abgeglichen wird. Damit ist nämlich Folgendes zu konstatieren: Menschen, die heute aus ihrer Not ihre Heimat verlassen, reden nicht mit einer Stimme, und es wird ihnen im öffentlichen Diskurs keine eigene Sprache zugestanden. Das übrigens ist unmöglich, da sie alle in ihrer Verschiedenheit in der Regel verschiedene Pässe verschiedener Nationen besitzen, die ihnen allerdings aufgrund der herrschenden Regime eben keine affirmative Haltung gestatten, sondern sie zur Flucht nötigen. Denn sonst wären sie schließlich nicht auf der Flucht. Würde ich es anders halten? Wohl kaum. Aufgrund der Inhomogenität der Gruppe der notleidenden Menschen auf der Flucht ist es demgemäß unmöglich, dass sie als homogene Alterität mit entsprechend kulturstiftender Anlage und Ausprägung in den Genuss positiver Attribuierung als Bestandteil der menschlichen Kulturgemeinschaft kommen – wie gesagt, wir folgen der Logik Seehofers. Somit werden Menschen in Not grundsätzlich auf eine weitere, zusätzliche Weise sprachlich dehumanisiert. Erstens sind sie Flut, damit bedrohlich und ein diffuses Etwas namens Deutschland okkupierend, das ihnen weder zustehe noch gehöre, denkt man Seehofer et aliae weiter. Andererseits haben sie keine eigene Sprache, trügen also der Logik gemäß nichts dazu bei, die Geschichte der Menschheit fortzuschreiben. Sie sind ja bloß Fliehende vor der Not, die im Übrigen wir mitproduzieren, aber das ist ein eigenes Papier. Es lassen sich sicher noch andere historische Konstanten im sprachlichen Ausgrenzungswahn denken. Interessant ist, dass diese rhetorischen Figuren eben nicht, wie Bogdal bereits 2011 für den Diskurs über die höchst artifizielle Genese der „Zigeuner“ konstatiert, ausschließlich auf das Gerede an den Stammtischen beschränkt ist. Denn leider ist es heute überdeutlich, diese tatsächlich abscheulichen und menschenverachtenden Schleifen im Diskurs der CSU und anderen am Werk zu sehen, wenn man heutzutage Zeitung liest. Und gleichermaßen gerieren sich derzeit intellektuelle Popstars wie Rüdiger Safranski oder Peter Sloterdijk. Wer nur Grenzen beschreibt und dabei vergisst, dass stets vom Einzelnen und seiner Sicht bzw. der Perspektive, die ihm die Macht gestattet, auszugehen ist, nimmt eine Schuld auch an der Fortschreibung der Menschheitsgeschichte auf sich. Denn es bedarf nicht mehr nur der Geschichte der eigenen Sprache. Die Wissenschaft hat sich seit dem frühen 19. Jahrhundert weiterentwickelt und unter anderem eben jene diffamierenden Dispositive herausgearbeitet. Das sollte eigentlich bei Repräsentanten der BürgerInnen common sense sein.

[1] Klaus-Michael Bogdal: Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung. Berlin (Suhrkamp) 2011, S. 156.