Der Fall Relomorenotius

Der «Fall Relotius» ist bereits ein sprachliches Klischee und als solches von Journalisten zu vermeiden. Den Autor verwundert es, dass die Person des Ex-Spiegel-Schreibers in der Publikation eines Immer-noch-Spiegel-Schreibers wichtiger ist, als der Sachverhalt, der im Untertitel von Juan Morenos Buch angeschrieben wurde.

Man kann trefflich über vieles schreiben. Na ja, man kann über alles schreiben. Als Journalist kann man über so ziemlich alles Denkbare schreiben. Vor allem sollte man wahrheitsgemäß über alles schreiben, was nach Missstand riecht. Und man muss dabei bei der Wahrheit bleiben. Das hat Claas Relotius wohl nicht getan. Und sein Kollege, Juan Moreno, hat dafür gesorgt, dass wir es wissen. Selbst wenn der Ruf des «Spiegel» gelitten hat: Veröffentlichung und Untersuchung des Falls durch einen Journalisten sind nicht nur gerechtfertigt, sondern auch notwendig gewesen, wenn man den Zeilen des Pressekodex, sogleich der Ziffer 1, mehr als nur eine Feiertagsverpflichtung zuschreibt. Denn dort steht: «Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse.» Gegen das erste Gebot zur Wahrheit hat Claas Relotius bekanntermaßen verstoßen. Gegen das zweite Gebot zur Menschenwürde hat Juan Moreno wohl nicht verstoßen, sich allerdings aus nachfolgender Perspektive zumindest fragwürdig verhalten.

Morenos Buch habe ich nicht gelesen. Ich werde es nicht lesen. Es passt derzeit nicht in meinen Plan. Das ist keine Ignoranz, sondern nur eine Frage der Zeit. Ich sollte es lesen, denn ich kritisiere an der Oberfläche, was im Buch das eigentliche Thema ist und viel mehr Menschen und Medienmacher interessieren sollte, als die Person Claas Relotius und sein Einzelfall: «Das System Relotius und der deutsche Journalismus». Was mich von Beginn der Debatte an aufgeregt hat, war die Konzentration auf den Protagonisten des aktuellen Betrugsskandals. Man sieht Juan Moreno bei Böhmermann, liest eine ganze Reihe von Stories in den Leitmedien und fragt sich irgendwann, ob es nicht so ist, dass Relotius das eigentliche Thema und nicht etwa eine wie auch immer geartete Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit ist. Wenn man jedoch als Journalist arbeitet, verbietet sich meiner Auffassung nach diese personenbezogene Konzentration. Also welches Problem hat der Journalismus heute? Unglaubwürdigkeit, weil Stars einfach daherlügen und fantasieren, dass sich die Balken biegen? Gonzo hoch sieben? Oder dass parasitär auf boulevardeske Weise und dieselben niederen Instinkte bedienend, mit falscher Flagge einzelne Personen angeklagt werden, was das Zeug hält, ohne dass drängende Fragen von Gate-Keeping, Glaubwürdigkeit usf. eine Chance zur produktiven Auseinandersetzung bekämen?

Nochmals: Ohne das Buch, das erstaunlich schnell nach Bekanntwerden des Skandals auf den Markt kam, gelesen zu haben, möchte ich dazu anmerken, dass es seriös gewesen wäre, nicht nur eine Weile mit der Veröffentlichung zu warten, sondern auch gleichermaßen den Unter- zum Haupttitel zu machen. Es mag sein, dass die betrügerische Arbeit von Claas Relotius kein Einzelfall ist. Dann ist genau dieser Sachverhalt das Thema des Buchs, nicht aber die zweifelhafte Galionsfigur des jüngsten Presseskandals. Und wenn es stimmt, was der Klappentext meint («Hier erzählt er [Moreno] die ganze Geschichte vom Aufstieg und Fall des jungen Starjournalisten …»), dann ist der Untertitel irreführend. Bei dieser Schlammschlacht, die schon unappetitlich genug ist, fragt sich der Hinterwäldler aus dem muffigen Keller der alten Schule, ob hier nicht der PR-Teufel mit Herrn Moreno und dem Rowohlt-Verlag durchgegangen ist. Dass er nun Gegenwind vom Bösewicht erhält, verwundert nicht. Für Vernunftbegabte ist dies lediglich ein Zeichen dafür, dass es in diesen erregten Zeiten permanenter Erregungszustände an der Zeit ist, das Kapitel Relotius zu schließen. Sinn machte allerdings ein Buch, das dem Untertitel von Juan Morenos Text gerecht werden würde. Doch das ist, unterstellen wir’s einmal, weniger verkäuflich und macht vor allem mehr Arbeit.