documenta 02: Das Urteil

Die Documenta 15 zeigt vieles, nur nach Kunst sucht man länger. Es gibt sie, aber sie macht sich rar. Und man fragt sich, ob dies der Tod der Kuratorenkultur sei, die mit der Geschichte der Documenta, mit Namen wie Harald Szeemann, Jan Hoet oder Adam Szymczik so eng verbunden ist. Jetzt sieht man hier viel Plunder und Talmi und wird durch antiquierte Konzepte an der Nase herumgeführt. Das Dialogische ist wohl nur für Eingeweihte zugänglich. Und unterkomplex geht es gleichfalls in Kassel zu. Fazit vorab: Es war schlecht wie nie. Kaum zu beschreiben, was für Ungeheuerlichkeiten dort aufgeboten wurden, um zudem noch schlechte Politik zu machen.

Nun also waren wir dort in Kassel und haben die Documenta 15 gesehen. Vorneweg: Ich schreibe in den kommenden Zeilen von der Documenta oder d15, um es kürzer zu gestalten. Das «fifteen» klemme ich mir. Diese Sprachregel empfinde ich als genauso infantil und sprachlich überflüssig, wie die Rede von Ekosistemi anstelle von Ökosystemen. Das sind Sprachschleier, die über das eigentlich Trostlose dieser Veranstaltung gelegt worden sind, um mit Aufhübschung Interesse zu erheischen, an Gegenständen oder Handlungsweisen, die es kaum wert sind. Dazu werde ich mich äußern, und das ist der Tenor des nachfolgenden Abgesangs, der sich möglicherweise nicht nur auf die d15, sondern auch auf das ganze Kuratorentum selbst singen lässt, denn ohne Not schafft sich mit der d15 nicht nur die Documenta als größte Kunstausstellung auf dem Planeten ab, sondern auch ihr inneres Organisationsprinzip, die Kuratorenschaft, die das Documenta-Axiom im Kern bis zur d15 war. Wie das zu bewerten ist, wird allerdings anderen Texten vorbehalten sein. Nun also Kassel. Wie in vielen Berichten könnte indessen der individuelle Eindruck aus einer Installation, von Bildern oder von einer Performance wiedergegeben werden. Es folgt jedoch keine Beschreibung eines Werks als Beispiel für die Aussage der Kritik. Das würde den Proporz verschönern. Daher kommen die Juwelen in angemessenem Umfang bescheiden und später. Ich beginne mit ein paar Zahlen.

Neulich las ich bei Klaus Siebenhaar, dass das Projekt d15 über 40 Millionen Euro schwer ist. Das ist eine Menge Holz, bei dem, was einem geboten wird. Details dazu erspare ich mir. Ich schreibe hier weniger als Journalist, denn als Kritiker. Und ich stelle ganz bewusst meine Meinung ins Zentrum. Ich habe so gut wie alles gesehen, ich wurde Augenzeuge. Beim Vorurteil muss ich bleiben, obgleich ich mir sehr viel Mühe gegeben habe, offen vor Ort alles wahrzunehmen. Leider konnte mich die Schau keines Besseren belehren. An unserem d15-Wochenende Mitte Juli ist es glücklicherweise nicht ganz so heiß, und wir schlendern vom nahen Hotel über die Fulda zum Fridericianum und reihen uns zunächst jedoch in die enorm schnell schwindende Schlange vor der Documenta-Halle ein. Während im Nachgang zu lesen ist, dass zur Halbzeit gute 410 000 Besucher die Ausstellung sahen, also nur unwesentlich weniger als die d14, frage ich mich, wo das Publikum denn an diesem Wochenende ist. Nirgends warten wir länger als ein paar zu vernachlässigende Minuten, was bei den vorherigen Veranstaltungen komplett anders war. Schauten wir auf die Angaben im Web, hieß es oft «Hohe Auslastung». Der Blick auf den Eingangsbereich strafte die Maschine Lügen. Kaum angestellt, war man auch schon in den Räumlichkeiten – überall. Wie also wird gezählt?

Kaum etwas los in Kassel Mitte Juli am Wochenende. Foto: Kampmann

Es muss übrigens noch eine, meines Erachtens wichtige Bedingung für diesen Text geäußert werden. Ich schreibe im Folgenden über die Kunst und ihre Kontexte auf der d15. Ich schreibe nicht über den latent spürbaren und bisweilen offen sichtbaren Antisemitismus oder über Taring Padis moralischen Totalausfall (oder auch den der sogenannten Kuratoren von Ruangrupa). Das kann sich jeder per Lektüre der Interviews einholen. Jüngst im wiederum kaum zu überbietenden PR-Nichtssagen in der Septemberausgabe von «Politik und Kultur» (S. 22, «Die Folgen des Holocaust werden unterschiedlich erlebt»,). Es sind nämlich in erster Linie die Kuratoren, die in einem Nebel aus mangelhaft argumentierten Rechtfertigungsschleifen ihre Untauglichkeit demonstrieren. Oder sollte gleich eine politisch motivierte Unwilligkeit unterstellt werden? Dann aber haben wir genau die politische Agenda, die das Unterfangen an den Rand der Verfassungsfeindlichkeit schubst. Ein Ort, den die Documenta als Documenta sicher nicht verdient hat.

Die unangenehme, passiv-aggressive Intellektfeindlichkeit ist das erste, was nach dem Besuch hervorzuheben ist. Sie zieht sich durch die gesamte Veranstaltung. Und mit dieser Feststellung ist das Müsli meines Urteils zusammengestellt. Und alles, was ich in meinem Vorurteil bereits verdammt habe, fand ich dort vor Ort bestätigt. Die Veranstaltung war – positiv formuliert – der Versuch der Gestaltung eines Organismus. Der aber verstarb leider an seiner dysfunktionalen Verdauung. Es fehlte der Verwertungskontext jenseits einer Kunstbehauptung und der Bezug zum Bezugssystem, zur finanziellen und intellektuellen Nährlösung namens Kunstsystem. Es fehlte Geschichtlichkeit und das Reflektieren von Geschichte; es mangelte überall an begrifflicher Reflexion; es fehlte ein Mindestmaß an Würde gegenüber den Werken; es fehlte an Gespür für Inszenierung. Kurzum: Diese Documenta war ein Gesamtkunstwerk im schlechtesten Sinn: zusammengesetzt aus allen denkbaren und vorstellbaren Faktoren, die eine Ausstellung scheitern lassen. In dieser Totalität der zum Himmel schreienden Qualitätslosigkeit war sie stimmig. Das war sicher nicht so gewollt. Mir tun die wenigen Künstler leid, deren Arbeiten kaputt kuratiert wurden. Allen voran dauert es mich um Pınar Öğrenci, deren dokumentierender Film hinter ihrer fragilen Arbeit aus Papiertaschentüchern im Hessischen Landesmuseum zugrunde gebracht wurde. Sie war am falschen Ort und ebenso falsch inszeniert. Die Schönheit verkam in einer Art Banalität. Immerhin konnte man sich hier noch, konzentriert auf die Bewegtbilder, mit der Sache auseinandersetzen, was andernorts nicht gelang, weil die ruhigen, fließenden Bilder durch lautstarke Nachbarschaften permanent in Mitleidenschaft gezogen wurden, etwa in den Katakomben des Fridericianums. Der Raum mutierte dort unfreiwillig zum Mischpult, weil man es nicht geschafft hat, ruhige Arbeiten akustisch von Krawall zu trennen. Das lässt keine kuratorische Absicht erkennen, geschweige denn ist hier Sensibilität zu spüren. Ganz unabhängig von der beschämenden, teils kriminellen Politisierung (WH22) einer Ausstellung sind es Infantilisierung und Belanglosigkeiten, die diesen Quark ungenießbar machen. Vielerorts wurde über das Schließen der Veranstaltung geschrieben. Es wäre zu viel der Gnade gewesen! Und wir werden diskutieren müssen, welche Konsequenzen diese Documenta mit sich bringt. Ich mag da schon ein wenig mutmaßen. Es ist ja nicht so, als habe sich der Schlamassel nicht schon längst angekündigt.

Seit 1992 besuche ich die Documenta – leider mit einer Unterbrechung im Jahr 1997. Die d15 ist, das muss in der Rückschau konstatiert werden, gänzlich irrelevant für einen durchaus als global zu denkenden Kunstdiskurs. Niemals habe ich einen derartig propagandistisch eindeutigen und langweiligeren Krempel mitansehen müssen. Die wenigen spannenden Komplexe verrecken kläglich im Einerlei belangloser Alltagsschau. Inszenierung a la Kabelbinder, ohne selbigen in den «Werken» oder den «Prozessen» zu reflektieren. Stattdessen Sozialarbeit aller Orten. Mag das dann soziokulturell spannend sein, ist die Documenta jedoch kein Instrument der Soziokultur. Alles in allem fragt man sich, warum kaum jemand außer Bazon Brock (SZ, Paywall) genauer hingeschaut hat. Billig und in Baumarkt-Qualität kommt das meiste daher. Schulmöbel werden zerlegt und mit Kabelbindern wieder zusammengeflickt. Als wenn man die nicht noch benutzen könnte. Recycling von Neuware ist irgendwie sinnlos. Wenn hier die Fragen des Planeten bzw. der Menschheit verhandelt werden, ist das eher weniger nachhaltig. DIY um jeden Preis. Diese d15 ist ein Symptom für eine zunehmende Komplexitätsreduktion auf allen Ebenen im Diskurs. Und der mutiert zur Überbrüllaktion, und am Ende liegt alles in Scherben. Ich frage mich, warum sich Kuratoren mit diesem dort vorgezeigten Kram zufrieden geben (können) und was sie in den endlosen Propagandavideos sehen? Und kein Mensch, mit dem ich gesprochen habe, hält sich zurück mit dem Urteil. Jeder sagt, dass es enorm bunt und enorm kunstfrei zugehe.

Es ist ja nicht so, als sei die d15 ohne starke Bilder. Nabwana I.G.G. drehte in diesem Jahr das wundervolle «Football Kommando». Der Film ist in der Documenta-Halle zu sehen und handelt von Kindesentführung und Organschmuggel. Das ernste Thema und die familiären Tragödien verschwinden nicht hinter dem Slapstick, den der Film auszeichnet. Low Budget gedreht, zeigt er, wie Kolonialismus und Dehumanisierung im Auftrag von unsichtbaren Organverwertern, die sicher im globalen Nordwesten daheim sind, ohne Diskreditierung der Opfer durch das Lachen und die selbstironische Darstellung entlarvt werden. Martial Arts, Kung-Fu und viele knatternde Maschinengewehre haben dann auch keine Chance gegen den «Rumenigger», dem deutschen Partner einer Mutter, die ihr Kind an die Verbrecher verloren glaubt. Und dieser Fußballer kickt die Bösewichter förmlich vom Platz. Aber worum es eigentlich geht? Gedreht in Uganda, ist der Film das Ergebnis einer Kreativgruppe, gestaltet, gefilmt, geschnitten von Autodidakten der Ramon Film Productions Wakaliwood.

Documenta-Halle. Foto: Matthias Kampmann

Auf einer Motorhaube, die nicht an Richard Prince erinnert, weil die Kontexte so niemals vom Bluechip-Künstler gemacht werden könnten, man denkt nur sofort an ihn, liest man Zeilen eines Briefs: «Dear Omer, My mom sold my white dress. My father sold my house. My sisters sold my gold. My lover sold my gun.» Ein Auto wird zerlegt. Zwischen den Männern in schwarzer Kleidung bewegt sich elegant eine Frau, deren Gesten darauf hindeuten, dass sie hier auf der Baustelle das Sagen hat. Sie greift selbst zu, schwingt die Flex. Dies ist im Turm des Fridericianums zusehen. Der Raum zeigt einen alchimistisch anmutenden Sublimationsprozess. Am Ende kommt mengenmäßig nicht viel, aber eine wertvolle Essenz dabei heraus: Platin. Und Selma Selman, geboren 1991 in Bihać, Bosnien und Herzegowina, zeigt uns, wo der Hammer hängt: in einer kleinen Vitrine. Die Installation zitiert die Geschichte eines fahrenden Volks, das überall unerwünscht ist und als Projektionsfläche allen kriminellen Übels seit Jahrhunderten herhalten muss. Den inneren Druck in einer Community kann man sich wohl kaum vorstellen. Aber auch hier schlägt die Unprofessionalität zu. Nicht einmal auf der Webseite zur d15 konnte dokumentiert werden, dass Selman einen Raum, der überdies recht exklusiv ist, für sich bekommen hat. Stattdessen sucht man alle Namen, die unter OFF-Biennale Budapest aufgelistet sind, um herauszufinden, wer diese dichte Arbeit geschaffen hat. So geht es mit vielen Werken, die noch den letzten Rest von Individualität transportieren. Die Documenta ist eine Wüste in Sachen Information, und mit der Wegeleitung und der Typografie haben sich die zuständigen Agenturen nicht mit Ruhm bekleckert. Aber das alles passt ins mediokre Konzept und den üblen Gesamteindruck: Wenn schon mal etwas Positives zu sehen ist, dann wird es mit veralteter Information unkenntlich gemacht.

Vielleicht muss man das in Zukunft dauernd aushalten, dass es keine Kunst mehr gibt, deren Unterscheidungskriterium eben nicht Autonomie ist, wie Wolfgang Ullrich («Die Kunst, keine zu sein», 19.08.2022, Zeit Online, Paywall) mal wieder falsch verstanden hat, sondern ihre Fähigkeit, sich aus dem Handlungskontext von Sozialarbeit oder politischer Propaganda herauszunehmen und zu lösen, um sich in und mit den verwendeten Mitteln selbst sinnstiftend und notwendig zu reflektieren, damit Distanz zur Thematik und damit ein Möglichkeitsraum als Alternative zum Wirklichkeitsraum zu freier Reflexion über eben jene Themen geöffnet wird. Wenn man dann Autonomie als selbstgesetzgebend versteht, dann fehlt der eine Part in der eigentlich dialektisch angelegten Ästhetik, und wenn ein Werk das schafft, darf es sich mit Fug und Recht Kunst nennen. In einem umgangssprachlichen Sinn jedoch sind Werke eben nicht autonom. Nimmt man ihnen die Abhängigkeiten im Sinne von Dependencies und vor allem die hermeneutischen Interdependenzen aus beispielsweise Material und «Inhalt», dann sind sie vielleicht im Sinne Konkreter Kunst autonom, oder sie sind dann eben keine Kunst mehr, sondern schlicht Hammer, Tisch, Nagel oder was auch immer. Denn das ist doch der Kern des künstlerischen Schaffens: Dass Profis wie Selma Selman es schaffen, uns die Welt und Umwelt zu zeigen, wie sie eben nicht ist, oder ist oder sein könnte, als Möglichkeitswelt eben, aber mit und in den Mitteln, die sich selbst im besten Fall und bei bester Qualität aus sich in zwingender Notwendigkeit begründen. Ganz abhängig etwa von den angespielten Themen, die gesetzgebend steuern, was durch die vehemente Schaffensmöglichkeit von Künstlern wie Jonathan Meese wirklich wird. Den Dingen selbst und ihrer Geschichte sind die Referenzen als Gesetze inne. Woher sonst käme die Ikonografie, woher sonst die Ikonik, um nur einmal bei den eher traditionellen Werken zu bleiben. All dies lässt sich fugenlos und mit ein bisschen Anstrengung jedoch auch in anderen, performativeren Werken auffinden. An dieser Stelle verzichte ich auf Beispiele. Die Kunstgeschichte ist voll davon. Auf der d15 jedoch sind viele Beiträge, aus meiner Sicht der überwiegende Teil, eben nicht das, was in den Documenten davor zu sehen war: Kunst. Sie mögen kunsthaft sein, aber über den Status des Anfangsverdachts kommt kaum etwas hinaus.

Na dann ist das wohl so: der nächste Paradigmenwechsel? Foto: Matthias Kampmann

Vollkommen unverständlich ist dann die textliche Desinformation in Buch und Netz nicht. Auch das Publikationswesen ist blamabel. Erstaunlich, dass HatjeCantz solch Müll unter ihrem Namen veröffentlichen. Natürlich braucht es kein «Buch der Bücher», keine ausladenden Katalogmonstren, aber zumindest sollten die Texte ordentlich übersetzt sein. Im Grunde klingt jeder Eintrag in dem dürftigen Bändchen so, als hätten Deepl und Google den Übersetzern die Feder geführt. Dagegen d14! Selbst die Relikte dieser letzten echten Documenta zeigen mehr (meiner Auffassung nach eine der besten, die ich sehen durfte). Z. B. sind die Ausgaben von «South as a State of Mind» ein großartiges Bekenntnis und überzeugender Beweis dafür, dass Kunst und Diskurs leben. Ganz zu schweigen von der Ausstellung selbst. Diese Documenta zeigt hingegen eher das Grab einer Möchtegern-Kunst und einer verzerrenden Sicht auf Funktion und Kontexte. Abklatsch längst erlebter Praktiken, ideologisierter Kitsch. Die Dinge und Orte sind größtenteils nichtig, trotz beharrlicher Behauptung, Kunst zu sein. Sie sind Repetition des schwammigen und in diesem Kontext eher albernen «Lumbung». Kunst ist derzeit eben nicht hinter den Kasseler Bergen. Man sollte gar nicht mehr über Kunst reden, wenn man über d15 spricht.

Aber wie kommt eine Documenta zustande, die im überwiegenden Maß kunstlos ist? Oft ist zu lesen, dass eine Alarmanlage nicht angesprungen sei. Ich glaube übrigens nicht, dass ein Warnsystem ausgesetzt hat; ich bin vielmehr davon überzeugt, dass es eine systemische Zwangsläufigkeit war, ohne jedoch einem Determinismus, den es nicht geben kann, das Wort reden zu wollen: Wir mussten irgendwann symbolträchtig – und unter einer Documenta geht’s natürlich nicht – mit solch einem Mumpitz überkübelt werden. Crossovertum, Kultur- und Bildwissenschaften haben am kunsthistorischen Epistem in den 1990ern und danach so dermaßen genagt, dass man sich für seinen fremdunterstellten Ästhetizismus und die ebenso unterstellte bürgerliche 19.-Jahrhundert-Existenz rechtfertigen, wenn nicht schämen muss(te). Das war aber nur scheinbar (politisch/kulturwissenschaftlich) korrekt und ging leider mal wieder fett an der Sache vorbei. Mit der Folge, dass heute der Baumarkt regiert und die teure Documenta wie der billgste Ein-Euro-Shop daher kommt. Siehe obere Etage Fridericianum. Also, wie war das noch mit der Krise der Kunst(geschichte) zu der Zeit, als ich langsam mal richtig zu studieren angefangen habe (Symptom: Hans Belting, Ende der Kunstgeschichte; da hat das Kuratoren-Kartell wahrscheinlich nur den Titel gelesen). Mich hingegen amüsiert es, wie stockkonservativ ich bin oder erscheine. Vielleicht bin ich nur Realist? Kunst ist Kunst, alles andere ist alles andere. Und in Kassel ist alles andere, außer Kunst.

Lumbung statt Professionalität. Foto: Matthias Kampmann

Ich habe vor ein paar Wochen in dem vollen Bewusstsein, kein Profi zu sein, Regale angebracht. Und ich habe mein Motorrad in vollem Bewusstsein, kein Profi zu sein, gepflegt, mir dann aber lieber vom Profischrauber zeigen lassen, wie man die Kette spannt. Ich brauche kein Kunst-Alibi. Aber es sind auch die Kuratoren, die eine Katharsis brauchen beziehungsweise danach lechzen. Nachdem die Moderne als Antike identifiziert wurde, kommen wir uns vielleicht edel und einfältig vor wie Johann Joachim Winckelmann. Das führt zu Frust, wollen wir doch das Leben in die Kunst pumpen. Kunst allein macht ja nicht glücklich. Und das Fressen kommt vor der Moral, auch in der Maslowschen Bedürfnispyramide von 1943. Die Kunst muss schon wirken: direkt und ohne Aufschub. Beschwören wir dies mit Lumbung, und niemand kommt auf den Gedanken, das mal in Kassel mit der Allmende abzugleichen, und mir kommen wieder die Debatten aus dem Jahr 2000 zurück, als wir vom Internet als Wissensallmende bei der Gründung der gleichnamigen AG von Attac fantasierten. Was aus dem Netz geworden ist, wissen wir. Die AG hat sich basisdemokratisch übrigens recht zügig zugrunde gerichtet.

Also Kunst im Leben? Dann sind wir allerdings nicht mehr selbstreflektierend. Dann gehen wir wieder in Richtung Mythos und Fetisch. Das ist dann wohl ein Rückschritt, ein Atavismus gar: die Documenta als Wolfskralle? Na ja, dazu ist das Bild vielleicht ein bisschen zu zahm. Mein Eindruck ist, dass viele der derzeit Kuratierenden genau das im Sinn haben: sich auflösen hinein in den schnöden Alltag, aufgrund der Angst vor einer Geschichte, die derart wirkmächtig ist, sodass wir uns heute vielleicht eher unterm Absatz als auf der Schulter von Riesen fühlen müssen. Einerseits haben wir den gnadenlos überzeichneten Markt der Bluechips und ihren Händlerverbrechern und dummen Käufern, wie Ben Lewis das alles so wunderbar in «The Great Contemporary Art Bubble» im Jahr 2009 vorgeführt hat. Andererseits haben wir die seit Jahrzehnten nun in falsch verstandenem Beuys-Tümeleien dahin fantasierenden Systemstürmer, die meinen, dass Kunst schon aktiv politisch sein müsse. Auf geht’s Bilder, werft die Steine gegen Eure Unterdrücker. Nun gut, Widerstand gegen neoliberale Ausbeuterei und Entmündigung demokratischer Instanzen, so wie es sich etwa zu Beginn der 2000er Jahre ereignete und in der Occupy-Bewegung, die bekanntermaßen durch die Documenta 13 instrumentalisiert wurde, ist ja in Ordnung. Das ist aber genau dann paradox, wenn das Handeln sich offen gegen die nährenden Wesen richtet und wäre nur dann ehrlich, wenn die Tantiemen aus den Unterdrückerinstrumenten abgelehnt werden würden. Jeder ist korrupt, so scheint’s, und käuflich, und diesen Turn hatten wir ja nicht erst einmal in der Geschichte von Literatur, Film und Kunst. Aber in Kassel erlauben sich die Organisatoren eine derart offen negierende Nabelschau ganz gern. Und auf diese Weise übertreibt es der weitaus größte Teil der Beteiligten. Finalisiert dann im Bild einer Documenta, deren einzige künstlerische Leistung darin besteht, ein 40 Millionen Euro teures «Als-ob» zu sein. Als ob es Kunst wäre. Wir haben es so gewollt. Zu sehen und abzusehen war es längst. In den Manifestae, den Biennalen, Transmedialen und vielen anderen Festivals. Es ist außerdem den beglaubigenden Katalogtexten abzulesen.

Baumarkt-Flair im Ottoneum. Foto: Matthias Kampmann

Da spielt dann das Vermögen, etwas zu können, weil dieses Etwas eingeübt und ausgeübt wurde, auch keine Rolle mehr, wenn man alles und nichts behaupten kann. Wenn man Kunst als Etikett, als Zitat an alles klatscht, ohne den Beweis anzutreten, es damit auch ernst zu meinen. Es gibt im gesamten System Beweise noch und nöcher, dass Professionalität als Eigenschaft zur Differenzstiftung abgedankt hat. Weil es auf die Differenz nicht mehr ankommt, weil ja jeder nur ein bisschen herumpixeln muss, damit Kunst ist, weil man den Pinsel schwingt und in der Sparkasse oder im Hallenbadfoyer einen Kreativmarkt aufbaut und die Blumentöpfe buntfarbig krakeelen, sie seien Kunst. Beispiel aus einer anderen Welt: Als Mitglied des Chaos Computer Clubs (CCC), den ich aufgrund seiner aufklärerischen Haltung zur Digitalisierung unserer Gesellschaft sehr wertschätze, bekomme ich die «Datenschleuder», das Zentralorgan, frei Haus. Dort diskutieren Autoren gerade Non Fungible Token (NFT) als Mittel zur Gewährleistung von Autorschaft und Authentisierung von Kunst. Aber keiner von den Informatisierten kommt auf die Idee, mal einen echten Experten aus dem Kunstsystem dazu zu befragen. Und natürlich schließt keiner an die Netzkunstdiskurse der 1990er-Jahre an. Niemand denkt an ephemere Kunst, die sich eigentlich dem Markt produktiv widersetzt, sondern hier feiert das 19. Jahrhundert in Form bürgerlicher Wertmaßstäbe, Monetarisierungsstrategien und Kunstbegriffe in neuem Gewand fröhliche Urständ. Und in den späten 1990er-Jahren war es mit der Netzkunst unter anderen Vorzeichen das gleiche: Nein, wir sind keine Kunst bzw. wir sind nur dann Kunst, wenn wir als solche nicht erkannt werden. Ja, und warum dann ein Stipendium wahrnehmen? Warum dann etwa auf Kongressen oder Festivals auftreten? Zurück zu den NFT in der «Datenschleuder»: Die Widerlegung von NFT als geeignetem Mittel für die Errettung des Kunstsystems, und das ist ja immerhin ausgezeichnet, dass sie kommt, erledigt dann wer? Kein Experte aus der Kunstwelt.

Währenddessen machen die selbst ernannten Künstler da so vor sich hin mit den Dingen. Und wenn sie Glück haben und das Zeugs dumm genug ist, um selbst Dummies dafür zu interessieren, kann damit Kasse gemacht werden. Und sie halten ihre Pixelkollagen für Kunst, obschon da nix is. So funktionieren Kulturfeindlichkeit, Geschichtsvergessenheit, Anmaßung und Selbstermächtigung, weil man ja mit der Maus ein paar Pixel hin und herschubsen kann. «Do it yourself.» Alle Betriebsmittel der Großen in die Hände der Kleinen. Grassroot für alle, und Ausbildung war gestern. Das war das Motto der «Transmediale» 2001. Die nannte sich Medienkunstfestival. Allerdings war damals schon wenig Kunst dort zu finden. Hortensia Völckers hat viel Geld dazugegeben. Fand im Haus der Kulturen der Welt statt. Berlin. Baumarktkunst, wieder einmal. Man kann das machen, aber man sollte schauen, welche Begriffe man anlegt. Wenn alles Kunst ist, ist Kunst nichts. Kann man behaupten, aber schöpferisch zu sein, heißt noch lange nicht, dass in dem Prozess des schöpfenden Schöpfers Kunst dabei herauskommt. Es kann ja auch ein Schlüsselbrett sein. Oder ein schön geschnittener Zierrasen. Ach ja, so ist das wohl. Es lacht gerade sehr in mir… Und dann bin ich wieder bei der d15 und ein paar scheinbar politisch relevanten und ebenso scheinbar revolutionären Vorstellungen: Fußball mit vier Toren… Was ist da eigentlich von Fußball gewusst worden? Und ja, lasst uns mal Regierungskunst machen. Yeah. Basisdemokratie. Für 80 Millionen hierzulande. Wow. Mit Ekosistema… na ja, irgendwie ist das doch schon sehr amüsant, oder? Da will man die Kunst auf das Etikett von Kreativkursen reduzieren und gestaltendes Schaffen staatstragend inszenieren mit ein paar kollektiven Säcken Lumbung-Reis. Bezahlt hat das ganze Jetten der 1400 Leute dann die Documenta GmbH, also am Ende der Steuerzahler. Und dabei stellen sowohl die Kuratoren als auch die Mehrzahl der radikalen Gruppen vor Ort bisweilen offen eine Form der Demokratie, nämlich die hiesige repräsentative, prinzipiell mit all den Graswurzelbehauptungen und Anklagen gegen den Westen (extrem im WH22) infrage, oder habe ich da etwas missverstanden? Oder sind mit den ganzen Anklagen, wie sie etwa gegen die bösen Dollar-USA durch The Question of Funding aggressiv vereinfachend vorgebracht werden, wir gar nicht gemeint? So herrlich blöd-naiv und nichtssagend ist das Material in Kassel. Oder ist das nun die Vieldeutigkeit der Kunst, während Politik doch eindeutig sein sollte? Und überdurchschnittlich häufig unbegabt präsentiert. Also irgendwie doch auf Flughöhe der «einfachen Leute»? Ja, ganz offensichtlich ist die Documenta elitenfeindlich, übrigens eine über die Grenzen zwischen Links und Rechts hinausreichendes undemokratisches Phänomen. Aber halt, ist die Kunstszene nicht elitär per se? Ach ne, es ist ja nur die Selbstzuschreibung als Kunst. Jetzt muss ich aber doch lachen… Ich drehe mich im Kreis: Also wenn es keine Kunst sein soll, wofür dann Kunst. Wenn es nur um schöpferisches Handeln und gemeinsamen Austausch geht, warum dann Kunst? Und bei allem: Warum keine Messe, kein Festival, kein Kongress? Warum eine Ausstellung in der Tradition von Gegenwartskunst, wenn das, was da praktiziert wird, per definitionem keine Kunst sein kann oder will. Ist die Documenta denn der richtige Ort für alles, was da läuft? Also für die unzähligen Dokumentationsfilme gibt es mehrere einschlägige Festivals – beispielsweise – und für politische Agitation? Die Straße?

Das Dollarschwein fordert Tribut. Foto: Matthias Kampmann

Alles beginnt schon bei Äußerlichkeiten. Wenn im Vorwort des Katalogs von Ekosistema als «bahasa-indonesische» Vokabel für das banale Wort Ökosystem die Rede ist. Und dann, als könne man das nicht aus der Transkription in lateinische Lettern ableiten, dann auch noch immer Ekosistema geschrieben wird? Das ist Lacoste-Fiorucci-Diesel-Rolex-Iceberg-Armani-usw.-Fetischismus. Aussage- und sinnfreies Neusprech light. Bedrucken wir doch unsere Hoodies damit. Klingt echt super. Nichtkunst als Medium für die Werbeabteilung politisch ambitionierter Aktivisten. Also Propaganda. Und Propaganda ist keine Kunst. Und vier Tore sind kein Fußball. Mich würde nicht wundern, wenn die Ruangrupas und Co. Wirtschaft oder Produktdesign oder beides studiert hätten. Oder eben gar nichts. Und dann fehlt eben das Professionelle: die Bereitschaft, sich mit etwas und mit der Geschichte dieses Etwas auseinanderzusetzen. Nur in der Sprachwahl sind sowohl die Ruangrupa- als auch Taring Padi-Vertreter professionell im Lavieren. Und was bleibt, ist dummes Zeug. Und das auch deswegen, weil keiner weiß, was da so gemacht wird.

An der Lutherstraße 2 sitzen Leute an einem Campingtisch. Die kehren allen, die daran vorbeigehen, den Rücken zu. Da heißt es im Katalog, dass man da nicht hinein kann. Ich dachte immer, die d15 sei offen und ein Ort des Dialogs. Die dürftigen Publikationen, wahrscheinlich, wie schon angedeutet, veraltet und wie stets einfach schlecht übersetzt, verraten, es gebe Aufführungen auf dem Dach. Alles klar. Nebenan sind Beete mit Mais und anderen nicht gerade seltenen Kulturpflänzchen. Es gibt Solarpanel, man sieht so etwas wie eine Bewässerungssteuerung, aber weder die Leute, die mit uns ankamen, noch uns erklärte man etwas. Wie gesagt: Man kehrte uns den Rücken zu. Überhaupt: Es hieß, dies ist die Documenta des Mitmachens. Ich habe bei der d14 mehr mitgemacht. Da waren die «Animateure» auch freundlicher und gingen auf Besucher zu. Hier hatte ich den Eindruck, als wolle man uns nicht dabei haben. Insgesamt war diese Documenta nämlich eher abweisend, das war mein Eindruck. Das jedoch gilt nicht für das wie immer freundliche Personal an der Gepäckaufgabe oder in den Spielstätten.

Dehumanisierung, keine Satire: ein Zivilisationsbruch. Nicht lustig. Foto: Matthias Kampmann

Es ist also doch keine Ausstellung. Aber, es ist auch kein Lumbung, kein Fest des Miteinanders. Alles nur Behauptung, denn die meisten Besucher ticken nicht so, und die Settings sind eben doch nur ausgestellt. Da ist niemand, der einen mitnimmt. Irgendwo sitzen immer Leute herum, aber keiner zieht einen mit. Planned Obsolescence? Außerdem sind die Fragen nach kulturellen Brücken längst gestellt worden (Enwezor, aber auch David und vor allem Szymczik!). Exzellent ausgebreitet in der letzten d14. Die habe ich wirklich sehr gemocht. Übrigens ist es die, deren Publikationen ich regelmäßig heranziehe. Und dann ist es jetzt dieses politische Desaster, das alles überdeckt. Und das ärgert mich maßlos, weil es ein Verlust an kuratorischer und observatorischer Intelligenz, die nichts mit Zensur gemein hat, ist. Geopfert auf dem Altar fundamentalistischer Kulturbehauptungen, die nur spaltend, nicht versöhnend wirken können. Wenn Menschen zu Schweinen gemacht werden, im Namen irgendeiner politischen Agenda, dann hat das nichts mit Kunst, sondern nur mit Agitation zu tun, und wenn man sich dann auf eine historische Bildtradition beruft, dann sollte man sich fragen, ob das eine menschenwürdige Tradition ist. Tradition allein ist kein Garant für Humanität. Im O-Ton und sicher anders gemeint, aber auch hier wieder ohne nachzudenken daher parliert: «We don’t do satire. We do want to dehumanize people who we identify as oppressors, so we turn them into other things, like animals or robots. When we curse in Indonesian we call people by animal names, so in a way we are cursing them.» ( «‹We Take Ownership and Responsibility›: Indonesian Collective Taring Padi Reflects on the Controversy Over Their Art That Paralyzed Documenta, Artnet, 10.8.2022) Make love, not war geht anders. Selbst wenn es Unterdrücker sind, denen das Menschsein abgesprochen wird, ist dies ein Zivilisationsbruch, der uns in voraufklärerische Zeiten zurückführt. Das kann doch kein Mensch ernsthaft gutheißen. Und warum etwa muss ich derartig verfassungsfeindliches Dahergerede im steuermittelbezahlten öffentlich-rechtlichen Ausstellungsdiskurs erleiden?

Liebesentzug. Foto: Matthias Kampmann

Aber gleichen wir uns nicht in dem Wunsch nach Friedfertigkeit? Die Zeit der Intellektualisierung von Gewalt scheint vorbei zu sein: global. Anders ist es sicher mit den regionalen Kulturbegriffen. Aber braucht es dann noch die sogenannte Kunst? Wenn es doch immer nur noch um Kultur geht? Ich komme aus meinem Käfig dieser systemischen Begriffe nicht heraus, ohne den Boden des Denkens und der Geschichte zu verlassen, womit ich dann wiederum keine Kunst und ihre Begriffe sowie Geschichte mehr brauche. Wenn ich Fotos einer Beuys-Aktion anschaue, schaue ich Fotos einer Beuys-Aktion, und wenn ich einer Aktion zuschaue und vielleicht sogar mitmache, werde ich mitinszeniert. Das ist etwas anderes als das, was offenbar bei vielen Therapie- und Selbsthilfe- und Sozialarbeitsaktionen/-gruppen auf der Documenta passiert. Ich sage offen, dass es genau in diesem Augenblick extrem beliebig und unprofessionell wird. Und ja, diese meine Setzung mag durch und durch europäisch sein. Wenn ich das nicht so dächte, wäre der Begriff Kunst nicht angebracht, oder er wäre einfach überflüssig – siehe den Text von Bazon Brock in der Süddeutschen (Paywall). Dann wäre es politische Arbeit, dann wäre es Sozialarbeit und so fort. Ich drehe mich immer wieder im Kreis. Ich komme nicht weiter. Ich denke an das stille Werk einer Maria Nordman oder an Herman de Vries oder an den liebenswerten Mann mit den Blütenpollen, Wolfgang Laib. Es wäre alles nichts ohne den Kontext des Kunstsystems, der diese Viten in sich birgt und geborgen hält und in ihren Werken sinntragend wieder entbirgt, ausstellt: ja, ausstellt! Und sie mit dem gesamten Begriffskontext, der über Jahrhunderte gewachsen ist, einhegt, schützt und plausibilisiert, ohne in irgendeiner Weise ihre jeweilige Individualität zu negieren, sondern in der Betrachtung diese Gehalte wieder entbirgt. Und zwar unternimmt dies eine Gemeinschaft von Interpretierenden, in der einer vom anderen im Prozess des gemeinsamen Denkens lernt. Ansonsten wäre doch alles schlichtes Material, Zeug oder maximal pseudoritualisierte, fetischisierte Objekthäufung. Das habe ich gegen die Documenta als Ganzes, dass sie uns weismachen will, es gebe und gäbe das gar nicht. Das, genau das nenne ich Verdummung. Und deshalb ist diese Documenta als Documenta kaum grandios als vielmehr sang- und klanglos an sich selbst erstickt.