Die Intelligenz der Oberflächlichkeit

oder Über den Mythos der Interaktivität im Spiegel der Arbeit life_sharing

Life_Sharing on MacOS 9

ALMA: «Die Sache war sehr einfach. Wenn er mir einen Kuß gab, hatte er immer das Notizbuch in der einen Hand, und mit der andern Hand schrieb er hinein, was ich für ein Gesicht dazu machte. Ich war eifersüchtig auf das Notizbuch, ich dachte, er küßt mich nur deiner Gesichter wegen (unter Tränen) und – und –»
F. Wedekind, Die junge Welt1

«Mit dem Aufkommen der technischen Reproduzierbarkeit der Kunst verlieren nicht nur die Werke der Vergangenheit ihre Aura […] bei denen die Reproduzierbarkeit konstitutiv ist; hier haben die Werke nicht nur kein Original, sondern es verschwindet allmählich vor allem die Differenz zwischen Produzenten und Betrachter, nicht zuletzt weil diese Künste sich im technischen Gebrauch der Maschinen vollziehen und deshalb jeden Diskurs über das Genie (der im Grunde die Aura, vom Standpunkt des Künstlers aus, ist) beseitigen.»2

Alles mündet ein in das Vaporisieren einer traditionellen Vorstellung von Kunst in den Alltag der Menschen, keine Besonderheit der Erfahrung, keine Stillstellung der empfundenen Zeit in der Betrachtung: Die Kunst ist zu Tode gekommen, nicht nur, weil Künstler und Ästheten den Alltag mit ihren Erzeugnissen durchdrungen haben, sondern auch weil die Mittel, mit denen Kunst hergestellt wird, den Künstler aufs Altenteil geschickt haben. Die Betriebsmittel, so die populäre Aktualisierung aus der aktivistischen Ecke, sind dem Volk übergeben worden, das Volk ist sich selbst der größte Künstler, und am Ende bleibt nichts Ausdifferenziertes übrig, von dem man mit Fug und Recht schreiben könnte, es habe die alten Attribute verdient. Dies ist laut Vattimo dem Maschinellen der neuen Kunstwerkproduktionsmethoden inhärent und künstleraurazerstörerisch.

Weil wir dieselben Produktionsmittel wie die Künstler benutzen, weil Kunstwerke in ihrer Anlage technisch auf Vollzug durch den Benutzer drängen, ist Kunst nicht mehr möglich. Nüchtern kann man heute sagen, dass hiermit nur eine Erkenntnis mehr auf dem Markt der Ableitungen von Phänomenen in einer Gegenwart von Texten angezeigt wurde. Doch es wird munter weiter produziert, und der Mythos vom genialen Künstler tradiert sich, wie ich zu zeigen versuche, ebenfalls problemlos, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Der Bezugsrahmen der Betrachtung hat sich verschoben, das Werk ist nur ein Kapitel neben dem Kunstkommentar, der Reflexion des Markts bzw. der Reflexion der gesellschaftlichen Dispositive, der Kunstgeschichte im Werk und der Rezeption, oder kurz des Alltags. In den weniger technischen Künsten hat man sich mit der Lage arrangiert, sehr zu Gunsten einer Renaissance nun der bürgerlichen Künste wie der Malerei, der Skulptur etc.

Es gibt aber noch ein Residuum, das letztlich in der Postmoderne nach Vattimo auf der Anklagebank Platz zu nehmen hatte, nun aber gleichermaßen das Genie wieder mit ins Boot holt: Medienkunst. Der Prometheus vom letzten und jüngsten Gestern war der Medienkünstler erster Prägung: Wir wurden virtuell illuminiert, informiert und angeregt, uns selbst zu verorten und das Kunstwerk zu «vollenden». In dieser paradoxen Struktur, die sich aus einem aktualisiertem Geniebegriff und dem Zerstören der Basisbedingungen als ein Funktionieren des Werks behauptet, lozieren sich immer erst die Techniker. Das vermeintlich Interaktive war es, was diesen Diskurs erregte, anregend war das selten.

Waren es vor rund zehn, fünfzehn Jahren die ersten Exploratoren einer sogenannten dreidimensionalen Welt, welche mit Materialschlachten sondergleichen zunächst einmal die Kassen diverser Firmen aus Silicon Valley mit öffentlichen Fördergeldern zuspülten, so ist es heute der missverstandene Berufszweig des Hackers, der uns verleitet, hier einem neuen Verehrungskult aufzusitzen, um gleichermaßen darüber klagen zu können, dass es keine Werke mehr gibt und alles nur mehr ans Ende gekommen sei. Auf dieser Flughöhe verschwindet tatsächlich alles Erzeugte und alles Erfahrbare vom Radar des Betrachters in ein Nirwana stammelnder Litaneien aus Theoriesplittern, welche zu immer wieder neuen «Kunsttexten» collagiert werden. Und letztlich fällt überhaupt nicht mehr auf, dass das Kunstwerk dunkel bleibt, fiat nox.

Kunsttheorie und -kommentar haben sich nach der Postmoderne in diese verzwickte Lage manövriert; anstatt an neuen Beschreibungsparadigmen konstruktiv zu arbeiten, um den Artefakten – die es nach wie vor gibt – mit analytischem Eifer auf den Pelz zu rücken.3 Demgemäß entwickeln sich die Werke, denn wenn alles und nichts an diese Zombies herangetragen werden kann, ohne materialiter gerechtfertigt zu werden, dann kann auch alles wie alles erscheinen, oder eben nicht.

Ein wenig tiefer fliegend erhalten wir schon wieder Sicht auf die Werke und schauen also genauer hin. Sehend können wir Differenzen zum Aufscheinen bringen und können eventuell Aussagen treffen, die zu einem, wenn auch verschobenen und verschiebenden Verstehen führen. Es ist nicht mehr Stil, nicht mehr die nahtlose Geschichte, die Rezeptivität an sich, welche im Zentrum einer möglichen Beschreibung von Gegenwartskunst stehen kann: Kontext ist da ebenso formbares Material, und Technik als Technik, als Reelles, wird Thema und Gegenstand der Betrachtung und Beschreibung gleichermaßen.

Werfen wir beispielsweise einen Blick auf eine Arbeit der Netzkunst, die sich einerseits durch Interaktivität andererseits durch ein paradigmatisches Vergehen an der Intransparenz von Datenverarbeitungssystemen auf der Basis von Unix-artigem abzuarbeiten versucht hat und dem Betrachter zunächst ganz wertneutral suggerierte, dass in dieser Arbeit das Reelle in einer Weise vorgeführt werde, welche für den Alltagsbetrieb von Servern undenkbar ist: Enormen Erfolg bekam die Arbeit zugeschrieben. So enorm, dass die Macher zu Helden der Szene avancierten und kein Weg mehr an ihnen vorbei führte. Die Rede soll nun von «life_sharing» von der Künstlergruppe, die sich bezeichnend 0100101110101101.org (oder einfacher «zero one dot org»4) nennt, sein. Und ihr Spiel dreht sich um Identität und Authentizität, denn während sie sich hinter einer wechselnden Zahl von Mitgliedern und ohne bürgerliche Namen zu verschleiern versuchen, öffneten sie laut Selbstaussage den Zugriff auf ihren Rechner in einer Weise, die einen Systemadministrator vor große Sicherheitsprobleme stellen würde. Auf ihrer Homepage zur mittlerweile beendeten Aktion beschreiben sie das Projekt wie folgt:5

«life_sharing is a real time sharing system based on Linux. Since January 2001 the main 0100101110101101.ORG’s computer has been turned into a transparent webserver. Any user has free and unlimited access to all contents: read texts, see images, download software, check 01’s private mail, get lost in this huge data maze. life_sharing is a brand new concept of net architecture turning a website into a hardcore personal media for complete digital transparency. Permanent infotainment from the peer to peer generation. Privacy is stupid.»

Nehmen wir dieses Statement einmal Ernst und fragen, was man eigentlich sieht, wenn man «surft»? Um einen Eindruck zu bekommen, was diese Arbeit ausmacht, benötigte man lediglich einen Browser, also eine spezielle Software zur Darstellung von Internetseiten. Doch was der Betrachter der Site zu sehen bekam, war nichts anderes als die Repräsentation der Daten durch kleine, sogenannte Icons, Platzhalter also, die in einem eigenen Verzeichnis liegen, die der Webserver ausliest und dann nach Inhalt entsprechend an den anfragenden Client, den «Surfer» ausliefert. Veränderbar ist erst einmal so ohne weiteres gar nichts.

Es scheint hinter der Arbeit eine Strategie des Humors verborgen zu sein, der auf die Ironisierung der Netzkunst-Szene und ihrer Gepflogenheiten des Heroismus zielt, vor allem aber die Medienkunstuntersucher und -vermittler aufs Korn zu nehmen, die diesen neuen Geniekult produzierten und dem Künstler-Hacker zumindest indirekt magische Fähigkeiten zuschrieben und mehr intellektuelle Verehrung in ihren Texten zum Ausdruck bringen als fundierte Analyse. Daraus lässt sich kurz ableiten: Wo die Oberfläche endet, endet auch das scheint’s endlose Ornament der Theoriepfropfung, denn eigentlich ist die Arbeit bereits an technischer Banalität kaum zu übertreffen, auf welche die meisten Kunstforscher offenbar hereingefallen waren. Und was die Interpreten der Arbeit aufgepfropft haben, lässt äquivalent die Entfernung zwischen dem «Eigentlichen» von Werk und Ausdeutung im «Uneigentlichen» der Interpretationen erscheinen.

Man kann sich ja einmal den häretischen Luxus erlauben, eine technische Alternative zu ersinnen, denn aus allen Deutungen erscheint die Vorstellung, es handele sich um Authentizität: Stöbere ich in den Daten anderer, fallen die Grenzen und/oder Hüllen, ganz nach Geschmack. Doch wer belegt und garantiert mir diese Authentizität und Wirklichkeitsnähe? Wer beweist mir eigentlich, dass der technische Apparat namens Server tatsächlich auf dem Schreibtisch der Bologneser Dachgeschosswohnung der Künstler steht?6 Wer beweist mir denn, dass es tatsächlich ihre/seine Mails sind, die ich dort lese, wenn das Fake eine der bevorzugten Strategien der zeros ist? Gut, unterstellen wir Authentizität als erstes Kriterium für ein erfolgreiches Netzkunstwerk, so ersinnen wir eine Alternative, die technisch vielleicht authentischer wäre; warum zero dot org es nicht selbst so gemacht haben, darin liegt – vorweggenommen – das Kunsthafte und der Sinn ihrer Kunst. Doch zur Klärung der Verhältnisse spielen wir’s trotzdem an: Dazu muss zunächst ein Blick zurück auf eine textuelle Software-Ebene geworfen werden.

Die zero one dot orgs hätten vielleicht eine Ebene tiefer oder höher gehen können. Die Voraussetzung der Arbeit ist ein Computer, der ans Netz angeschlossen ist. In der Regel sind dies heute Computer, auf dem ein Unix-System läuft.7 Um zu verdeutlichen, was ich mit meiner unkünstlerischen, technischen Alternative meine, muss ich ein wenig aus der Technikgeschichte referieren. Sicher ist alles, was auf der Standardausgabe eines Computers erscheint, und das ist in der Regel heute der Bildschirm, menschenlesbare Repräsentation von Daten, die Menschen nicht mehr lesen können. Deshalb benötigen wir Mittel, diese Komplexität auf ein menschengerechtes Maß zu reduzieren. Dies geschieht mittels sogenannter «User-Interfaces», den Benutzerschnittstellen. Klassische, etablierte Mensch-Maschine-Interaktion bei netzwerkfähigen Betriebssystemen geschieht über ein Terminal. Dieses bringt bis heute im Prinzip jedes System auf der Basis von Unix allerdings nur mehr symbolisch mit sich (wenn ein Displaymanager, das ist die Regel, verwendet wird). Das Hardware-Terminal war früher der ausschließliche Ort der Interaktion mit Großrechner, Mainframe oder Minicomputer: Ein Bildschirm als Ausgabe der Berechnungen, dazu ein bis zwei Eingabe-Schnittstellen, Tastatur und später Maus, aber keine eigene CPU, wie das heute in der Regel der Fall ist. Alle Berechnungen liefen im zentralen System.

Was ist als Erbe geblieben? Nach dem Anschalten und booten eines Unix-Systems, das die «simultane» Arbeit von mehreren Benutzern erlaubt, ereignet sich eine Loginprozedur, welche nach erfolgreicher Benutzernamen- und Passworteingabe die Benutzerumgebung zur Verfügung stellt und eine Software der Kategorie «Shell» startet. Dies ist für jeden Benutzer das gleiche. Eine Shell wiederum ist ein Programm, das «über» dem Betriebssystem liegt und zwischen der Arbeits- und Gedankenwelt des Nutzers und seinen Befehlseingaben hin zur Anwendungssoftware und zum Betriebssystem bzw. der Hardware vermittelt. An diesem Ort wurde und wird interagiert und zwar in den Grenzen und nach Maßgabe des jeweiligen Systems und der Rechte, die dem Benutzer vom Systemadministrator zugestanden worden sind.8 In einem ersten Schritt – dies war und ist auf Unix-artigen Systemen immer noch der Fall – ist diese Schnittstelle Text basiert. Der Benutzer besitzt in einem flexibel gestaltbaren Profil die Rechte, bestimmte Software auf der Shell auszuführen und muss dies auf der Shell eingeben. Ein einfaches Beispiel: Möchte ich wissen, welche Dateien in dem Standard-Verzeichnis liegen, in dem der Nutzer per Voreinstellung nach dem Login «sich befindet», tippe ich einfach «ls». Damit rufe ich eine Funktion der Shell auf, die «list», also den englischen Imperativ «liste auf», bedeutet. Dies ist im übrigen interpretierbar als das Äquivalent zum Ansteuern der Website von «life_sharing». Nur ist bei den zeros eine Software dazwischen geschaltet, deren Aufgabe es ist, auch den Inhalt der Daten auf Anfrage freizugeben. Dies ist ein quasi zweischrittiges Verfahren, wohingegen das einfache Auflisten ein rudimentärer Vorgang ist, der darunter liegt. Doch zur «Alternative»: Zurück erhalte ich danach eine Textliste der Verzeichniseinträge. Dies sind die ersten Repräsentationen, die es seit Beginn der Arbeit mit speicherfähigen Computern gab. Wurden diese Abfragen und Befehlsketten in früherer Zeit über beispielsweise Lochkarten veranschaulicht, so hat sich die Gemeinschaft der Ingenieure, Konstrukteure, Gestalter, Ergonomiespezialisten und Informatiker, welche sich der Arbeit an den Benutzeroberflächen widmen, immer stärker auf den Modus der Repräsentation geeinigt. Zunächst wie beschrieben auf textueller Ebene, dann wiederum auf grafischer Ebene.9 So ist auch der Webserver zu verstehen, der «life_sharing» an den Benutzer auslieferte: Die Software besitzt den Zugang auf ein Verzeichnis – in diesem Fall vermutungsweise das sogenannte Wurzel- oder Rootverzeichnis des gesamten Rechners – und kann die Daten, die darin liegen grafisch repräsentieren.10 Handelt es sich um automatisch generierte HTML-Code-Dateien, werden diese vom lokalen Benutzerbrowser als Texte oder Bilder aufgeführt. Handelt es sich nur um Verzeichnisse oder Datentypen, die nicht von Browsern oder Plugins dargestellt werden, so wird einerseits im Falle unbekannter Dateien eine Transfermöglichkeit vom Server auf die lokale Festplatte angeboten und andererseits im Falle von Ordnern bzw. Verzeichnissen deren Inhalt in Form eines sogenannten «Fancy Indexes», der beliebig mit eigenen Formaten zu gestalten ist, in einem Listenformat dargestellt.11 Damit lässt die Darstellung des «Festplatteninhalts» individuell wie im Werk der 0100101110101101.org gestalten.

Eine Weise, Inhalte des Internets zu (re-)präsentieren, ist die Anwendung eines Webservers auf speziell für diesen freigegebene Verzeichnisse, so bei zero. Eine andere ist es, den Fernzugriff auf Terminal-Ebene zu gestatten, wie ich es hier alternativ vorschlage, um dem unterstellten Charakter des Authentischen gerecht zu werden. Die Künstler negieren Visualität zugunsten Textualität, was ihren Selbstäußerungen als Präferenz zu entnehmen ist12, auf folgende Weise: Die Künstler bieten einen Login an. Der Login ist der Benutzer auf dem System, das freigegeben ist. Dem Benutzer, der nun tatsächlich als Benutzer, sagen wir «zero», mit dem System interagiert, ist dann wirklich auf jeder Schicht der digitale Repräsentant oder schlicht der Systemnutzer, den auch der Künstler verwendet. Das heißt, dass der Rezipient in der Lage sein kann, sämtliche Daten nicht nur als repräsentiert zu sehen, sondern auch als Benutzer zu verändern: Er kann beispielsweise E-Mails verschicken, kann die Texte bearbeiten, kann selbst Verwaltungsarbeiten – je nach Befugnisspielraum – am System oder dem eigenen Datenbestand durchführen. Dies wäre die Beinahe-Einlösung einer quasi-reellen Identität, wie sie durch beispielsweise Yvonne Volkart in enorm pathetischer Weise in ihrem Katalogtext zu Ausstellung «Konnektive Identitäten» interpretiert worden ist.13 Sie beschrieb die Arbeit als Spiel, das mit der Überwindung einer Hürde begonnen wird: Eine Javascript-Anwendung (keine Error-Meldung wie die Interpretin irrtümlicherweise schreibt), welche einen Text («Now you’re in my Computer) anbot, der als Hinweis über das als symbolisch zu definierende Eintreten in den Künstlercomputer informierte, musste vielfach und nervend durch den Klick auf einen OK-Button bestätigt werden, um die bildliche Repräsentation des vermeintlichen Festplatteninhalts durchsuchen zu können. Dies triggert das Empfinden der Authentizität in den Benutzern, und auf diese performative Behauptungsstrategie kann man natürlich als durchschnittlicher, technisch unversierter Surfer zu Schlüssen kommen wie:14« [zu restaurieren…]

Auch da spricht die Seite einen ganz direkt an: Du bist in mir drinnen. Das heißt nicht nur naiv-fiktional, dass man von einem Computer gefangen und einverleibt wurde, sondern dass es der Computer, respektive die Informationstechnologie mit ihrem ganzen Datenoverkill, ihrer Infoästhetik und ihrer ideologisch-technologischen Limitiertheit ist, die mein Leben bestimmt. Dies ist eine außerordentliche Übertragungsleistung, der entgeht, dass der Rezipient dem Immanenten der Arbeit derart auf den Leim geht, dass die Lücke zwischen dem Wahrgenommenen und dem Interpretierten so groß wird, dass alles sagbar wird, unter anderem auch dies:15

«Wer also Bedeutung, wer eine Identität oder mehrere in unserer Gesellschaft haben will, ist zwangsläufig ein Computersystem aus Nullen und Einsen, so banal und komplex, limitiert und determiniert, wie life_sharing es als Modellfall exemplifiziert. life_sharing zeigt, dass es kein Außerhalb der Computermatrix gibt, deshalb wird alles auf der Site transparent und öffentlich zugänglich gemacht.» (Herv. i. Orig.)

Mit dem Ende, dass ein bis 20 Klicks über Werden und Vergehen von Subjektivität entscheiden. Solche, aus kritisch-analytischer Sicht epistemischen Unfälle passieren, wenn man nicht hinschaut bzw. die Rezeptionsangebote nicht beim Code, Wort oder Bild nimmt. Oberflächlichkeit kreiert in diesem Falle die Erben Freuds aus dem Geist des Hyper Text Transfer Protocols (HTTP), was dem gesamten Websymbolismus zugrunde liegt. Weder bin ich drin, denn ich sehe nur Bilder von etwas, dessen Realität für mich symbolisch akzeptiert und unterstellt wird, noch habe ich Interaktionsmöglichkeiten, denn ich kann mich lediglich reaktiv verhalten, die Grenzen des Point-and-Click niemals überschreiten und tatsächliche, maschinell basierte Mutualität zwischen Künstler und Rezipient herstellen. Wenn ich ein Textdokument aus dem dargestellten Verzeichnisbaum auf meiner Festplatte speichere, so stehe ich mit mir als Leser und Schreiber in Kontakt, nicht aber mit den Künstlern in Austausch. Denn die Arbeit bietet keine direkte Schnittstelle an.

Ich bin niemals selbst infrage gestellt angesichts dieses so herrlich platten Browserillusionismus. Das Trompe l’Œil jener Vermeintlichkeit, die mit Authentizität kurzgeschlossen wird, hat nichts, aber auch gar nichts mit einem Realismus zu tun und stellt lediglich die Gläubigkeit der Bilderfreunde auf eine höchst ironische Bühne, deren diebischer Spaß es ist, die Hype-Szene zu thematisieren, bösartig: vorzuführen, sonst nichts. Hinzu passt dann auch das Selbstgeäußerte der Künstler: «Wir glauben nicht, daß das Herumklicken auf einer Webseite Interaktion ist. Da macht man nur, was einem vorgegeben ist.»16

Und sie geben vor, dies ist so offensichtlich in «life_sharing», dass es kaum auffällt. Wir haben hier ein Werk, das eine Form der inhärenten Kritik sowohl an der Folgeerscheinung von Vattimos Unterstellung, dass Kunst an ihrer Realität und dem Nutzen der realen Produktionsmittel zu Tode gekommen sei sowie die Entauratisierung des Künstlers spiegelt und sich dann bei oberflächlicher Betrachtung als Symptom für alles und nichts instrumentalisieren lässt. Es wurden jedoch Mittel der Systemtechnik als auch des Kunsthandwerks namens Webdesign in künstlerischer Weise eingesetzt und zugleich inszeniert und damit in ein sogar zeitlich abgeschlossenes Werk gegossen.17 Und das künstlerische Thema, das sich aus dem Verstehensvollzug des Technischen herausschält, ist das künstlerische Abarbeiten an den Reaktionen derer, die durch ihre Diskurse bestimmen, was Kunst ist, mit der Folge, dass uns das Kunstwerk «life_sharing» so deutlich wie kaum ein anderes darüber aufklärt, dass gerade im Zeitalter des «Todes der Kunst» Kunst womöglich möglicher als je zuvor geworden ist. Denn auch der «life_sharing» nachfolgenden Erkennbarkeit einer Überstrukturierung und -bewertung der Netzkünstler wird so ein Denkmal gesetzt, das als solches nur noch als rhetorische Figur für die Textkritik entzifferbar ist. Das Programm der Künstler, mag es intendiert oder interpretiert sein, bedient sich nunmal genuiner künstlerischer Verfahrensweisen in Form von Umnutzung und Symbolisierung und steht damit im Kontext einer aufgeklärten Avantgarde, die systemimmanent agiert und eine perfekte Repräsentationsmöglichkeit der Verlarvung eines «Netzkünstlergenies» durch seine Interpreten anbietet. Und es führt vor, wie Technikgläubigkeit zu einer Re-Auratisierung des Werks selbst führt. Denn auf ganz sachlicher und unspektaktulärer Weise war beispielsweise Datenübertragung spätestens seit dem Beginn der Beschreibung der Standards für translokale Netzwerke Vorschrift. Aus anderem Blick ein anderes Beispiel: Das gemeinsame Nutzen von Accounts ist Alltag in Netzwerkumgebungen und zumeist der Bequemlichkeit von Angestellten verschuldet.18 Was dabei an Privatheit/Intimität fasziniert, ist für den Betrachter lediglich die Freilegung der Stellgröße oder des Pegelstands des eigenen Voyeurismus, mehr aber auch nicht.

Ohne sich auf die Technik einzulassen und sich über sie zu informieren kann man Netzkunst nicht verstehen, was für alle Künste gleichermaßen gilt. Eigentlich wird das Technische, also nichts Besonderes, hochgradig symbolisch und damit keineswegs auch nur halbwegs reell, wie in meiner Interpretation und Erweiterung der Möglichkeit vorgeschlagen, vorgeführt und aufgeladen.

Ist man bereits auf symbolischer Ebene, die es erschwert, an die Technik ohne Fachwissen heranzukommen, so liegt die Versuchung nahe, alles an zeitgenössische Diskurse um Identität, Körperlichkeit und ihr «Flottieren» anzudocken. Der Blick auf die Erweiterung der Körpermetapher durch den beschriebenen Shell-Zugriff sollte dies überspitzt veranschaulichen. So aber wird nach wie vor Netzkunst mit Zuschreibungsvokabeln überfrachtet und steht damit der karikierenden und verzerrenden Arbeit von 0100101110101101.org als idealer Steinbruch zur Verfügung. Was man aus life_sharing darüber hinaus lernen kann, ist also auch, wie einst technische oder sozialwissenschaftliche Termini wie Interaktion in Modediskursen zuungunsten eines Werkverstehens verfremdet werden. Hier ist ein Stück Browserkunst Aufklärung in sich, die aber nur auf der Folie des technisch Funktionablen erkannt werden kann und eben nicht mittels kunstfernem Theoriekleister gleich welcher Provenienz, der sich zäh und verwirrend nunmehr jahrelang über uns ausbreitet und die eigentliche Leistung der Künstler gegen jede Beteuerung einer Intentionalität unter einer milchigen Schicht schieren Unsinns verklebt.

Matthias Kampmann, Leipzig im August 2004

1 Wedekind, Frank: Die junge Welt. Paris, Leipzig, München 1899.

2 Vattimo, Gianni: Das Ende der Moderne. Stuttgart (Reclam) 1990 (Original Mailand 1985), S. 59.

3 S. hierzu vor allem die verstörte Innenschau auf eine Fachwissenschaft namens Kunstgeschichte wie sie von Hans Belting in der revidierten Fassung seines Textes über die Krise von Kunst und ihrer Geschichte niedergeschrieben worden ist: Belting, Hans: Das Ende der Kunstgeschichte. München 1995.

4 Baumgärtel, Tilman: Net.Art 2.0. Nürnberg 2001; S. 198.50100101110101101.ORG (zuletzt besucht am 24.08.2004).

5 S. http://rhizome.org/art/artbase/artwork/life-sharing/: Während zum Zeitpunkt der Durchsicht des Texts (31.05.2017) das Werk nicht mehr über die Homepage der Künstler*innen zu erreichen ist (http://0100101110101101.org/life-sharing/), bietet die Plattform Rhizome im besten Retro-Style die alten Informationen an. Die alte Maschine ist nicht mehr online, auch nicht emuliert bei Rhizome, was schade ist, aber möglich wäre (MK, 01.06.2017)

6 Baumgärtel, Tilman: Digitales Selbstporträt, in Telepolis.

7 Ohne Evangelismus benutze ich hier diesen Begriff – man mag mich des Unwissens zeihen – pars pro toto auch für Linux etc., obwohl es sich um einen geschützten Namen handelt. Da es sich hier aber um einen kunstwissenschaftlichen Text handelt und es eines besseren verbalen Kulminationsbegriffs für jene Betriebssystemfamilie, die ich adressiere, ermangelt, nutze ich Unix hierfür in diesem Sinne, ohne Rücksicht auf Namenseigner; denn das, was mit Unix betrieben wurde und wird, ist angesichts der Tradition und Geschichte von Unix als ursprünglich offenem System sowieso eine Pervertierung des Wissensgedankens durch einen merkantilen Proprietarismus, dem Bildung und Mitteilung bzw. Austausch von Wissen gleichgültig sind und egoistischer Profit alles zu sein scheint.

8 Dies zu spezifizieren würde zu weit führen. Es gibt allerdings einen fantastischen Einführungstext über Computer und Unix von Wulf Alex (http://www.alex-weingarten.de/wulf/) unter http://www.stud.informatik.uni-goettingen.de/c-kurs/ss2007/unix_einfuehrung.pdf. S. S. 45 ff. sowie Abb. 2.1 (Visit: 01.06.2017) 

9 S. hierzu kritisch: Stephenson, Neil: Die Diktatur des schönen Scheins. Wie grafische Benutzeroberflächen die Computernutzer entmündigen. München 2002.

10 Da zum Zeitpunkt des Verfassens die Arbeit nicht zugänglich ist und mir die Künstler auf meine Anfrage nach der verwendeten Technik leider keine Antwort gaben, bin ich auf Vermutungen über das System angewiesen. Da aber keine vollständige Interpretation an dieser Stelle vorgelegt wird, sondern die Relation zwischen Technik und bisherigen Interpretationsbeispielen in Abgleich mit dem Erbe der Postmoderne nach Vattimo gegeben werden soll, bitte ich diese Unschärfe zu verzeihen und mich im Falle exakteren Wissens zu informieren.

11 Ich beziehe mich hier auf den De facto-Standard unter den Webservern, den sogenannten Apache-Server. Informationen über die Software selbst und zum Fancy-Indexing entnehme man Eilebrecht, Lars: Apache Web-Server. Installation, Konfiguration, Administration. Bonn 32000, S. 58, vor allem S. 167 ff. Ich bedanke mich hier aber sehr bei Florian Cramer, der mich auf Anfrage in meiner Vermutung bestätigt hat.

12 Im Interview mit Tilman Baumgärtel heißt es a. a. O., S. 202: «Ich glaube eher an Duchamps Konzept der einer nicht-retinalen Kunst. Wir können unsere Kunst ohne Computer präsentieren. Wenn es keinen Projektor gibt, um die Website einem Publikum zu präsentieren, ist das für uns kein Problem, weil unsere Kunst nicht ästhetisch, sondern ethisch ist, und weil es uns um unsere Ideen geht.» Unabhängig von den philosophischen Fallstricken wird deutlich, dass es nicht um Optizität geht. Daher auch mein nichtbildlicher Vorschlag. Der Browser als – frei nach Hans Dieter Huber – Theaterbühne für Bits, ist aber immer schon der Optizität verpflichtet, da seine Inhalte in der Regel mittels einer Seitenbeschreibungssprache «aufgeführt», verbildlicht werden, und damit immer schon eine Bildlichkeit implizieren. Auch wenn dasselbe für die Shell auf Textebene gilt: Hier ist man zumindest aus der technischen Perspektive näher am System.

13 Volkart, Yvonne: Konnektive Identitäten, in:. Breitwieser, Sabine (Hg.): double life. Identität und Transformation in der zeitgenössischen Kunst. Köln 2001, S. 41-69 (zgl. Ausst.Kat. Generali Foundation, 11.05.-12.08.2001, Wien).

14 Ebda. S. 55 f.

15 Ebda. S. 56.

16 Baumgärtel, S. 204.

17 Heute (08.2004) gibt es lediglich einen knappen Verweis in eben der Weise des zu akzeptierenden Javascript-Popups: «The life_sharing project has been temporarily interrupted, after more than 3 years of free and unlimited access. More info soon.»

18 Ich habe dies in meiner Ausbildung in der Redaktion einer Tageszeitung erleben dürfen.Dieser Beitrag ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht.ts ist Alltag in Netzwerkumgebungen und zumeist der Bequemlichkeit von Angestellten verschuldet.

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