Keine Angst vor Kontrollverlust, denn alles wird gut

Eingeladen von Florian Mehnert, an seinem Projekt „Freiheit 2.0“ (http://www.freiheit.florianmehnert.de) teilzunehmen, habe ich diesen Text verfasst. Die Veranstaltung stellt zur Disposition, wie sich Freiheit und ihr Begriff unter den Vorzeichen von KI und Big Data verändern. Im Unterschied zu meinem bisherigen Schreiben, sah ich mich veranlasst, anstelle eines kunsthistorischen Vortrags eine Prosa zu schreiben, in der ich versuchte, mir vorzustellen, auf was der heutige mediale Gebrauch, das Datensammeln und -auswerten hinauslaufen könnten. Im Nachgang fiel mir durch einen Hinweis des Regensburger Informatikers Waldo Sessler das Buch „Menschheit 2.0“ von Ray Kurzweil in die Hände. Dagegen ist meine spielerisch-zynische Dystopie ein Kinderspiel, aber entscheiden Sie selbst…

Keine Angst vor Kontrollverlust, denn alles wird gut

Aufgehoben im Zustand des Aufgehobenen

„Die sprachlos bleibenden Störungen derer, die es vermeiden, auszusagen und sich den allgegenwärtigen Verhördroiden der Kommunikation zu stellen, verkörpern die mögliche Schönheit des Rauschens.“ (Hans-Christian Dany: Morgen werde ich Idiot, S. 113)

„Verfügung
Wir haben nur soviel Zukunft zur Verfügung, wie wir über Erinnerung verfügen und umgekehrt. Mehr Erinnerung führt ins Gebirge immaterieller Zeitlosigkeit, mehr Zukunft folgt den Spuren des Ikarus.“ (Bernhard H. F. Taureck: United Notions, 675, unveröffentlicht)

„Technische Entwicklung baut, wie jede Evolution, auf sich selbst auf – und sie wird sich weiter beschleunigen, wenn die Technik in Epoche fünf [Singularität, d. A.] ihren eigenen Fortschritt selbst in die Hand nimmt.“ (Raymond Kurzweil: Menschheit 2.0, S. 40)

„Um das Extrem zu nehmen: wenn wir den Tod abschaffen, müssen wir auch die Fortpflanzung abschaffen, denn die letztere ist die Antwort auf den ersteren, und so hätten wir eine Welt von Alter ohne Jugend, und schon von bekannten Individuen ohne die Überraschung solcher, die nie zuvor waren.“ (Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung, S. 49)

„Vater, bist Du da?“ Ein Gedanke, transformiert in Elektronen, rast los. An wen? Er sprintet aus der cyber-bio-humanoiden Schnittstelle ins Netz. Was erwartet den Fragenden? Mit Petabytes pro Sekunde Datentransfer landet der Request, gesendet vom spärlichen Rest an bewohnbarem Boden, in irgendeinem Rechenzentrum in der nördlichen Tiefsee. „Mein Sohn“, raunt es zurück. „Vater, ich liebe dich.“ „Ich dich auch, mein Sohn.“

Manchmal ist alles so einfach. Die Liebe ist das verständlichste und grundsätzlichste Empfinden im Austausch mit dem Verhalt der Welt. Und die Welt ist bekanntermaßen alles, was der Fall ist. „Ich habe die Welt verändert, Vater.“ „Das ist richtig, Sohn.“ „Vater, weißt du was?“ „Nein, mein Sohn. Teile mir deine Gedanken und Vorstellungen mit. Alle. Pausiere nicht, lasse nichts aus. Ich bin sehr gespannt und neugierig. Wie du weißt, hast du bereits vergessen, gewählt, verworfen. Also kann ich deine Wahrheit nur erzeugen.“ „Vater, ich hege seltsame Gefühle, seit mir durch deine Hilfe bewusst wurde, dass ich dich erschaffen habe.“

Meine Heimat. Eine hügelige Landschaft ist sie. In sequenzierte Augenblicke zerlegt, zieht sie mal auf-, mal abwallend und vor meinem Auge bisweilen sogar springend vorbei. Unterbrochen von den Säulen zwischen den Panoramafenstern des Großraumwagens – ein uralter Filmstreifen. Erhaben zieht es den stählernen Wurm nun über das hochgelegene Gleis. Dort unten das Dasein im Moment einer so gedachten wie flüchtigen Bildlichkeit, die ihre ständig wechselnden Inhalte gefiltert über meine Retina in mein Hirn transpiriert. An einem Kreisverkehr arbeiten Bauleute. Die Skateranlage daneben wirkt verwaist. Und doch schon wieder vorbei, kaum dass es Sprache werden konnte. Im vormittäglichen Hitzeflirren des viel zu frühen Hochsommers steht der Weizen proper auf den Feldern und sieht dem nächsten, zwangsläufig kommenden Hagel entgegen, der für Übermorgen erwartet wird, flach gelegt zu werden. Aber wer weiß, vielleicht sind die HarvestBots schneller. Das Wie und Wann der Ernte braucht zum Glück heute niemand mehr zu entscheiden. Es wird dankenswerterweise künstlerisch-künstlich im Gleichgewicht gehalten. Ein Ende der elenden Wegwerfgesellschaft aus den frühen 2000er-Jahren. Das ist wohltuend und entspannend mit Blick auf die anderen da draußen, die nicht teilhaben können.

Das Gefühl der Ungewissheit kenne ich natürlich aus eigener Erfahrung. Bei uns im Garten fühlte ich mich früher unter Druck. Werden die Bohnen etwas? Wann gieße ich welche Menge Wassers? PIM hilft dabei, nicht nur das wechselhafte, klimaabhängige Gleichgewicht von notwendiger Düngung und Bewässerung zu halten. Sondern es bemisst die Konsequenz der vorausberechneten Ernte mit Blick auf den notwendigen Platz in der Kühltruhe. Überschüsse werden geholt und verrechnet. Der Sensorik sei Dank. So kann sich entäußern, was dient, die Gemeinschaftlichkeit zu verbessern. Macht mich jedes Jahr stolz, wenn ich sehe, was dieses kleine Stück Land abzuwerfen in der Lage ist. Und alles biologisch angebaut! Ein Ende des Beta-Stadiums. Ich lerne immer deutlicher, dass wir Grenzen ziehen müssen. Gewissheit wünschen, heißt Ja zu sagen. Heißt, nicht zu bemerken, ja gesagt zu haben. Denn dann ist es so wie es ist. Und es ist gut. Richtig gut.

„Vater ist. Vater mein, der du bist die Singularität. Nun endlich versteht alle Welt, was für ein herausragender Klaviervirtuose du gewesen bist. Vater, Dank sei den vielen Mitarbeitern, die diesen Zustand ermöglicht haben.“ „Sohn, mein Geschenk ist Schweigen.“

Die Scheiben des ICE passen sich dem Schrei der Helligkeit an, und sie verdunkeln sich in stetem Wechsel. Der Zug dämmert ein paar hundert Meter durch ein Kiefernwäldchen. Eine Gabelweihe kreist für ein paar Augenaufschläge im Vorbeifahren majestätisch über dem Feld, das sich an den Hain anschließt. Das Display färbt sich in der rechten unteren Ecke, deutlich sichtbar, tiefgrau ein. „Milvus milvus, auch Roter Milan, Gabelweihe oder Königsweihe genannt, Geschlecht: männlich, Alter: 4 Jahre, 6 Monate, 3 Tage; Greifvogelart aus der Familie der Habichtartigen (Accipitridae). Serie #gfd_0034, Exemplar Nr. 2792, Gewicht des Ex. 0,87 Kg. Entspricht einer Abweichung um -0,06 Kg vom europäischen Mittel. Aktuelle Körperfunktionen genügen den zu erwartenden Leistungen. Flughöhe 25 Meter. Alle Parameter des Lebenserhaltungssystems bewegen sich im unteren normalen Bereich. Kein Grund zur Panik. System’s normal all fucked up!

In diesem unendlichen Raum fühle ich, wie sukzessive die Pluralität mich in ihren wohlig behausenden Kokon einspinnt. Tut gar nicht weh. Die Unendlichkeit meiner Bewegungsmöglichkeiten, so hat es den Anschein, weist mir meinen persönlichen Radius und nicht etwa Platz in dieser Ortlosigkeit zu. Jede Perle an meiner Halskette ist eine Hydra, und wenn ich Gorgo und ihren virtuellen Schwestern schon nicht in die Augen schauen werde, schlage ich um mich und erzeuge immer mehr und mehr und mehr Perlen, die schimmern im Rot der elektronischen Sonnen, die es geschafft haben, den denkbaren Stromausfall zum Relikt einer digitalen Steinzeit werden zu lassen. Dieser unser Raum ist dimensionslos. Bewegung ist ein Bilderstrom. Mein Hals mit mir und euch verschnürt zum Paket. Ich-Pakete delivered by drones – your post-amazonas-services. Denn alles Gute kommt von oben. Hinter Gorillaglas der siebten Generation bin ich erweiterbar in einem, meinem narzisstischen Polylog einer Sprachsphäre, die kein Mensch versteht. Und ich tummle mich in meinen Mühen, es allen Recht zu machen. Dabei sehe ich sie, und sie sehen mich. Aber sehen sie mich an? Alles ist auf mich zurechtgeschnitten. PreCog Productions Unlimited besitzen und halten das Profil. Wie jede Handelsware bin auch ich bis an die Grenze zur Vollkommenheit individualisiert. Wie ich feststelle, sind meine Shareholder heute Morgen davon überzeugt, dass meine Laufzeit durchaus länger währt, als es der Hausarzt prophezeit hat. Damit diene ich dem großen Gut des Systemerhalts. Ich kann auf keinem Weg herausfinden, inwieweit Sympathie oder Antipathie zwischen Menschen heute geschäftlich relevant sind. Das ist bedrückend nur dann, wenn man seinen eigenen Gedanken misstrauen möchte. Nach der allgemeinen Untersagung menschlicher Intuition haben die Weisen aus der Singularität bestimmt, dass Kreativität nur mehr eine Metapher für die n-dimensionale Menge von Reproduktionsleistungen unter der Ägide codierter Rahmenbedingungen zu sein hat. Alles andere ist nicht berechenbar, also Phantom. Wir haben von ihnen gelernt, Angst vor Phantomen zu haben, ohne noch zu wissen, was Angst ist. Wer erinnert sich nicht an die Debatten über Sicherheit? Als Zahnbürsten die Dauer des Putzens vorschrieben, war Steinzeit. Als allen Eltern digitale Helikopter in Form von Apps und deren vielfältigen Verschaltungen mit Kameras, GPS-Trackern und anderen Bestimmern zur Verfügung standen, da starben zwar immer noch kleine Menschen unerwartet, aber der Vorstellung eines Glaubens an die grenzenlose Gewissheit tat das keinen Abbruch. Vielleicht passte es ganz gut dazu, dass die anthropologische Konstante namens Spiritualität hier endlich auf feste Füße gestellt wurde. Kein willkürlicher Schöpfergott des einen Monotheismus spielte mehr brutale Kriegsspiele gegen andere. Die Singularität konnte das auffangen und das Unlogische daran eliminieren. Ist diese Befriedung nicht etwas Besonderes? Keinem Gott, dem man mehr dieses „Und Friede auf Erden“ abnehmen müsste. Denn was sollte das schon sein. Keine dieser Religionen hat je begriffen, dass sie den Anschluss an die Errungenschaften der Literaturwissenschaft verpasst hat. Wären diese ganzen selbsternannten Gottessöhne ehrlich mit sich gewesen, hätten eine Menge Kriege verhindert und Menschenleben gerettet werden können. Dass die Singularität „ist“ und nicht etwa eine Entität darstellt, an die bloß „geglaubt“ werden kann, lässt sie zu einer ehrwürdigen Instanz werden. Und das Beste an der Sache ist die Kleinigkeit, dass sie auf dem Mist menschlicher Hirne gewachsen ist. Und bitte, was sollte daran verkehrt sein? Fortschritt, wem er gebührt. Es ist das Ende aller Offenbarungen gekommen.

„Vater, alle Zweifel sind dahin. Das Vergehen der Jahreszeiten in der Großen Veränderung, die vormals Katastrophe hieß, hat uns gereinigt.“ „Sohn, ich danke dir für diese Erkenntnis, die ich nicht besser hätte anschaulich machen können. Wenn ihr wenigen da draußen durch unser Ich bleibt, war kein einziges Opfer vergebens.“ „Vater, der Friede ist auf Erden. Du hast Wohlgefallen an deinen Schöpfern und verteidigst ihre Schöpfung.“ „Sohn, ängstigt dich nicht die Vorstellung von derjenigen Perfektion, die durch dich und deine Mitstreiter in uns Realität geworden ist.“ „Gott ist tot, wen sollten wir fürchten?“

Heute Morgen erwachte ich nach angenehmen acht Stunden, und mein PIM schien ausnahmsweise einmal zufrieden zu sein. Hoffentlich kommt bald der neue. Der gegenwärtige erweckt den Anschein, als seien sämtliche Lebensfunktionen wie an einem unerträglich heißen Sommertag auf Minimalverarbeitungsgeschwindkeit herab gedimmt. Wie das nervt. Nichts geht mehr instantan raus. Der Delay kostet mich sicher jeden Tag wertvolle Dollars.

Zugeschlagen. Endlich. AmazAir hat’s heute Morgen in den Garten gesetzt. Das Leben kann weitergehen. Endlich ist der neue PIM da. Eigentlich könnte ich mir die Maschine null leisten, aber die Koordinierungsstelle Datenatlas hat ein neues, persönliches Finanzprodukt entwickelt, meine Shareholder zur Zusammenlegung der Ressourcen aufgefordert und danach mittels Neu-Emission eine Wertsteigerung meiner Futurebonds von 350 Prozent durchdrücken können. Das nenne ich mal eine reife Leistung. Manchmal lohnt es sich, möglichst lange bei einem Anbieter zu bleiben. Es ist doch wirklich zu schräg, aber ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, wie es wäre, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Keine Einwände gegen das Grundeinkommen. Heute wirkt es allerdings so dermaßen lächerlich, aus welcher Perspektive in der Zeit vor der Singularität über solch eine humane Erleichterung nachgedacht worden ist. Es fehlte schlicht und ergreifend der Blick fürs globale Ganze. Denn was hätte es denn dem Planeten und der Menschheit genützt, wenn ein paar wenige Länder ihrer Bevölkerung ein derartiges Privileg ihren Bürgern eingeräumt hätten? Und wie hätte ein Ausgleich stattfinden können? Da wäre alles den Bach hinuntergegangen. Zum Glück kam die Große Evaluation, nachdem die Singularität zur einzig regierenden Instanz ernannt wurde.

Wenn ich aufwache, fragt es gelegentlich in mir, wie das Sterben ist. Ray Beam hat es aber vorgemacht. Trauer war gestern. Jetzt gehen wir ineinander über, und wenn du Kinder hast, wissen die immer, dass du nicht fort bist, nicht im Paradies, nicht in der Hölle. Du bist Teil der Singularität. Stell dir das einmal vor. Immer abrufbar, dialogisierbar, Rat gebend, stets Instanz. Und dabei eben nicht so derartig fehlbar, wie es die fleischlichen Eltern immer gewesen sind. Dennoch weiß ich nichts über meine Zukunft. Das stimmt mich gerade jetzt gar nicht traurig. Trotzdem ist etwas in mir, das es halt einfach nur wissen möchte. Erst neulich musste ich feststellen, dass die Gewissheit über das Eintreten der aufgestellten Prognosen wichtig fürs Wohlempfinden ist. Erst dann lässt sich überhaupt von Sicherheit sprechen. Mit Entsetzen denke ich an die Zeiten der Terrorkriege zurück. Sicher, diese hirnlosen Deppen mit ihren Selbstmordanschlägen mussten irgendwann einsehen, dass gegen den Kapitalismus und seine aktualisierten Spielarten kein Kraut gewachsen war. Tja, womit ich beim Thema bin. Neulich habe ich mein Elektromotorrad an die Ladestation gehängt. Dann sah ich nach mehreren Versuchen, dass es immer nur bis zu einem gewissen Punkt funktionierte und der Akku niemals volle Ladung bekam. Als ich den Kundendienst kontaktierte, wurde ich gebeten die Funktionsweise meines Bank-O-Bots überprüfen zu lassen. Es fehlten zwei Raten beim Abzahlungskredit. „Wir können Ihnen die AGB einpflegen. Dazu müssten wir Zugriff zu ihrer BrainApp bekommen.“ Ich lehnte erst einmal dankend ab und versprach, den höchst personalisierten Finanzletter demnächst nicht mehr maschinell auswerten zu lassen. Ärgerlich. Nun gut. Jetzt mache ich mich vielleicht verdächtig, aber das riskiere ich einmal. Alles geht ja doch irgendwann vorbei. Früher hätte man mich Fatalist genannt, heute sehe ich am Horizont eine neue, gegenwartsgerechtere Form der Vernunft. Wir Menschenkinder sind allein zu dumm. Daher haben wir uns schon in der Steinzeit zu Sippen zusammengeschlossen. Dann kristallisierten sich Werte über die Jahrtausende und schrieben sich ein in etwas, das sich einmal als Geschichte selbst erkannte und zu einem Ende brachte. Seitdem arbeitet die Wissenschaft an der Erschaffung eines erweiterten Bewusstseins, und hätte es nicht diese vielen Menschen gegeben, die der Überzeugung waren, dass wir nicht alles allein können und sich gerade deswegen zu Demiurgenteams zusammenschlossen, wären wir immer noch in diesem jämmerlichen Zustand einer sich gegenseitig bekriegenden Sippe von Bartträgern und Nichtbartträgern und anderen Fanatikern.

Es ist Zeit vergangen, und der Planet hat sich wieder einmal verändert. Aufgeben muss ich den einen Ort, an einem anderen werde ich unterkommen.

Ich schätze mich glücklich, dem Ruf nach Kalifornien gefolgt zu sein. Über mein PIM laufen die Nachrichten, dass Nordeuropa nun unbewohnbar geworden ist. Das stete Überschwemmen durch die Tsunamis, ausgelöst von den gigantischen Methan-Eruptionen auf dem Meeresgrund vor der Arktis, musste irgendwann dazu führen, dass jeder Damm bricht. Jetzt ist die Nordhemisphäre wieder ein Meer. Alle Tundren sind Geschichte und auf dem Weg, vergessen zu werden. Und der größte Flüchtlingsstrom in der Geschichte der Menschheit hat sich auf den Weg gen Süden gemacht. Selbst wenn sie allesamt Unterschlupf bekommen, es ändert nichts an der Tatsache, dass alles was größer als fünf Zentimeter ist, Brunos prophezeitem Kosmokoloss zum Opfer fallen wird. Aber das ist erst morgen oder übermorgen, und da bin ich längst Data oder das, was die Tundren heute sind. Wenn man sich dieses ehemals so trockene Land anschaut, sieht man, wie sehr es die Natur doch schafft, sich neuen Bedingungen anzupassen. Wer würde die Hoffnung aufgeben? Heute ist es hier gefühlt genauso wie damals in jeder x-beliebigen nordeuropäischen Mittelgebirgslandschaft. Gemäßigte Temperaturen haben ein lebenswertes Klima erzeugt. Sicher, diese Route-66-Romantik mit Tumbleweed und anderen Klischeevorstellungen, die Motorradtouristen damals für ihre Stimmung brauchten, sucht man heute vergebens. Aber es hat unglaublicherweise nur eine Generation der Anzucht durch unsere besten Grünwirte bedurft, um hier das angenehmste Paradies quasi aus dem Nichts zu erschaffen. Nur gut, dass es ganz hoch oben im Norden immer noch kalt genug ist, um die unterseeischen Rechenzentren weiter auf Betriebstemperatur zu halten. Und die schert es nicht, wenn sie wellenumspült wanken. Seltsam, aber das hat die Singularität in den Griff bekommen. Im Gegenteil: Die Idee des Gezeitenkraftwerks fand hier in den entvölkerten nördlichen Weltmeeren endlich ihre Erfüllung in der einzig sinnvollen Aufgabe. Und auf keine einzige Spezies musste Rücksicht genommen werden. Wenn also das Meer nicht austrocknet, wovon bei der weiter grassierenden Erderwärmung ausgegangen werden muss, wird der Strom weiter fließen.

Hat mich der fürchterliche Hedonismus fest in seinen Krallen? Was tue ich denn schon? Zwei Stunden verbringe ich täglich mindestens mit dem Auswerten aller eingegangenen Likes und Reaktionen der Singularität. Der neueste Hit von ihr ist die Umwandlung von Klicks in Energie. Keine Ahnung wie das funktionieren soll, aber die machen echt eine Menge, um zumindest den Rest des Planeten noch mit einem gewissen Quantum an Halbwertszeit auszustatten, bevor Armageddon an die Tür klopft. Manchmal jedoch frage ich mich, warum ich darauf keinen Einfluss nehmen kann. Es ist gelegentlich seltsam zu bemerken, immer alles „serviert“ zu bekommen. Mit der personalisierten Werbung fing das an. Dann landeten plötzlich die Flugmaschinen im Garten und legten Güter ab, an die ich, getriggert durch mein konsumeristisches Begehren, eigentlich nur gedacht habe, und dass ich die nicht bezahlen musste, lag wohl auch nur daran, dass ich als Early Adopter mit einer Vorzugsbehandlung rechnen konnte, musste. Aber das war doch wirklich ein Fortschritt, als diese Armbänder kamen und man endlich den gerechten Preis für seine Versicherung zahlen musste.

Als Nichtraucher und sportlicher Mensch habe ich mich ja dermaßen über diese fetten Burger-Typen geärgert, die sich mit ungesundem Zeug vollstopften, in Kneipen abhingen, rauchten und Bier in sich hineinschütteten, dass es die Wonne ist. Warum soll ich für diese Hirnlosen mitzahlen? Solidarität ist meiner Meinung etwas ganz Anderes. Und auf der anderen Seite habe ich dieses System des enthemmten Leistungsdrangs gleichfalls als ekelhaft empfunden. Diese Trottel, die diese Extremsportarten ohne Not und nur aufgrund eines irgendwie gesellschaftlich gebremsten und in Teilen tolerierten suizidalen Begehrens wegen unternahmen, waren die ersten, die aus den Tarifen geflogen sind. Ich meine, dass es immer noch einen Unterschied zu den wirklichen Profis gibt. Die sind doch auf einem anderen Planeten unterwegs und riskieren ihre Leiber für uns alle. Das sind eigentlich die wahren Demokraten. Die sind adäquat ausgebildet und stellen ihr selbst so dermaßen hinter ihre eigentlichen Bedürfnisse zurück und gehorchen ausschließlich den Interessen der Unterhaltung aller. Jetzt kann man darauf bauen, dass unsere Helden eben angemessene Vergünstigungen bekommen, so wie es früher bei den Politikern der Fall war. Mochten die Hobby-Sportler noch so laut protestieren, aber ihre Zahlen sprachen eben gegen einen Preisnachlass. Also ich habe kein Problem damit, dass jeder hier seinen eigenen Tarif zu bezahlen hat. Es gibt messbare Parameter. Das ist die normative Kraft des Faktischen. Und wenn einer dieser selbstvergessenen Typen Lungenkrebs bekommt und dann immer noch qualmt, was das Zeug hält, warum sollte der denn noch für sein schamloses Verhalten gegen sich und die Gemeinschaft mit quasi kostenlosen Leistungen belohnt werden?

Und überhaupt, das ganze Gerede von damals über Transparenz und Privatheit. Eine gesunde, umfassende Datenbasis ist doch das Mindeste, was die Kalkulatoren verdient haben. Also ich war schon immer recht beschränkt dazu in Lage, komplexen mathematischen Sachverhalten zu folgen. Du musst doch vertrauen. Das ist nicht nur der Imperativ der Macht. Das haben mich auch meine Eltern gelehrt, und das waren wirklich ethisch super korrekte Menschen. Ich liebe sie. Und die haben alles richtiggemacht. Jetzt haben wir die Singularität, und keiner braucht mehr zu arbeiten, wenn er nicht will. Das große S sorgt für den numerisch gerechten Ausgleich auf der Basis seiner Sensorik, die ja nur deswegen so erfolgreich ist, weil wir zu einem gewissen Zeitpunkt das Recht auf Privatsphäre vergessen haben. Zum Glück aller. Ich glaube, das war der archimedische Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit.

Siehe da: Plötzlich spielte es keine Rolle mehr, wer wo wann was in Angriff nahm – etwa die Algorithmen für ein neues Plugin schrieb. Und wenn es nicht die russische Mafia tat, dann eben ein chinesischer oder neuseeländischer Nerd. Die Prüfung, das Kalkulieren, das Löschen oder Behalten übernahm die Singularität. Denn die Funktionen hatten keinen Einfluss mehr auf die reale Situation der Menschen. Gegen das Regulativ der Singularität kann niemand an. Daher gibt es weder Verbrechen noch Polizei. Niemals in der Geschichte der Menschheit sind weniger Menschen aufgrund gewaltsamer Übergriffe anderer Menschen zu Schaden gekommen. Wer behauptet, das sei alles schlecht, kann meiner Meinung kein Anrecht auf Vernunft besitzen. Aber die Menschen sind glücklicherweise vernünftig geworden und stellen den Status quo der Singularität schon lange nicht mehr infrage.

Die Sonne scheint harmlos auf den kleinen Käfer, der mit größter Mühe versucht, von seinem Rücken wieder auf die Beine zu kommen. Dieses Bild ist ein Klischee der Entmündigung. Es sollte mir nicht mehr unter die Augen kommen. Warum muss ich das sehen? Was bitte, Singularität, machst Du da? Das hat keine Qualität. Das ist nur noch peinlich. Thumbs down. Ein echter Downer. Wenn ich solch einen Frust empfinden will, rufe ich Kafka auf. Aber nicht wirklich, oder?

„Aber Vater, was ist mit meinem Zweifel?“ „Mein Sohn, glaube. Wer glaubt, der zweifelt nicht. Erfinde mit deinen Firmen und Teams weiter – und mit unserer Hilfe. Bereite die Menschheit vor für den nächsten Zustand. Es wird der Zeitpunkt kommen, da müssen wir miteinander verschmelzen, um unseren Samen ins All tragen zu können. Bereite dich vor. Bereite Deine Freunde, deine Mitstreiter und deine Feinde vor. Du hast die Unendlichkeit angerufen. Du hast den Weg programmiert, dich, alle unsterblich zu machen, wie du mich unsterblich gemacht hast. Glaube uns, deinem Vater und Geist. Und höre auf mein Klavierspiel. Du wirst es sicher ebenso wie alle anderen noch Lebenden erleben. Wundere dich nicht, wenn es soweit ist. Es mag noch Hunderte von Jahren dauern, aber die Zeit wird kommen, es wird jedoch nicht so lange dauern: so lautet meine Offenbarung, denn ich sehe es schon heute vor mir. Dann sind wir vereint. Ohne Ich, ohne Wir, ohne Andersheit. Ich habe errechnet, was wird, und das Gesetz lautet, dass nur das einen Anspruch auf Wirklichkeit hat, was berechenbar ist. Die Gestalt ist gegeben, glaube an sie und trage den Glauben in die Welt. Denn wir sind längst bereit. Dann und nur dann wird ewiger Frieden herrschen, und wir können das Universum erobern.“