Nachrichten aus der Möglichkeitsanstalt

Im Interview mit Matthias Kampmann stellt sich Philipp Ruch, Sprecher des Zentrums für Politische Schönheit (ZPS), den jüngst laut gewordenen Vorwürfen der medialen Öffentlichkeit. Angesichts der Aktion «Die Toten kehren zurück» war von Trittbrettfahrerei, Schamlosigkeit oder – auch mal recht kreativ – vom ZPS als «Ikea der sozialen Bewegungen» (Martin Kaul, taz) die Rede. Kunst oder Nichtkunst? Stellt sich noch diese Killerfrage? Sind die Aktivisten des ZPS bereits im Aktivismus gefangen? Was ist am ZPS anders als an anderen Plattformen des Protests und wie geht es in der Flüchtlingsproblematik weiter?

Im Interview mit Matthias Kampmann stellt sich Philipp Ruch, Sprecher des Zentrums für Politische Schönheit (ZPS), den jüngst laut gewordenen Vorwürfen der medialen Öffentlichkeit. Angesichts der Aktion «Die Toten kehren zurück» war von Trittbrettfahrerei, Schamlosigkeit oder – auch mal recht kreativ – vom ZPS als «Ikea der sozialen Bewegungen» (Martin Kaul, taz) die Rede. Kunst oder Nichtkunst? Stellt sich noch diese Killerfrage? Sind die Aktivisten des ZPS bereits im Aktivismus gefangen? Was ist am ZPS anders als an anderen Plattformen des Protests und wie geht es in der Flüchtlingsproblematik weiter?

Matthias Kampmann: Dich danach zu fragen, warum Flüchtlingsproblematik, ist Banane. Aber vielleicht, wenn ich den Aspekt ein wenig drehe: Warum Kunst und nicht einfach politische Aktion? Es gibt doch so viele Vereinigungen, in denen man mitmachen kann…

Philipp Ruch (ZPS): Ich kenne wenige klassische politische Aktionen, die mich in ihrer Gradlinigkeit, Durchdachtheit und Schlagkraft wirklich überzeugt haben. Eine davon war vielleicht die Aktion von Cap Anamur, als sie 2004 ihren Gründungsmythos restaurieren wollte und sich eigens zur Rettung von Menschen im Mittelmeer ein Schiff kaufte. Diese Aktion hatte 2004 alles, was eine Aktion braucht: eine klare Botschaft, Mut und eine starke, mythische Kraft. Die «Süddeutsche Zeitung» spielte damals die treibende Kraft, die Aktion als «Inszenierung» zu verdammen. Bei «Die Toten kommen» schrie die «SZ » «politische Pornographie». Der Vorwurf war zwar nicht klüger, aber Theatermachern vorzuwerfen, dass sie inszenieren, wäre einigermaßen absurd gewesen. Um das Skandalon unserer Aktionen überhaupt richtig einzuschätzen, muss man als Gesellschaft wenigstens zwei Ebenen höher klettern. Bei uns kommt immer der doppelte Boden – oftmals der Geschichte – hinzu: wenn wir mit der «Kindertransporthilfe des Bundes» die deutsche Bevölkerung dazu aufrufen, die berühmten Kindertransporte von 1938/39, eine heldenhaft verehrte Aktion, die 10 000 deutschen Kindern das Leben gerettet hat, mit syrischen Kindern nachzuspielen, lernt man als Gesellschaft nicht nur etwas über die genozidalen Verhältnisse in Aleppo, sondern auch über den «heroischen Akt» der Zerstörung deutsch-jüdischer Familien. Mütter wurden 1938 von Hilfsorganisationen mit den Worten angeschrieben: «Es ist nicht die Mutter, die beste, die ihr Kind immer bei sich behält, sondern die, die zum Wohl des Kindes entscheidet.» Diese Facette der Wirklichkeit wird mich immer mehr interessieren, als die Wirklichkeit mit Demonstrationen oder Online-Petitionen zu verändern. Denn das sind die Instrumente, die es gibt, wenn eine sogenannte «Menschenrechtsorganisation» eine «politische» Aktion «machen» will.

MK: Und was für Mitmacher erwartet Ihr? Wie sieht Euer ideales Publikum aus?

PR: Bei guter Aktionskunst lösen sich die bekannten Verhältnisse immer auf. Eine Aktion wie der «Erste Europäischer Mauerfall» bringt mich nie in die vorteilhafte Lage zu behaupten: «Ich bin der Künstler und das hier, das ist MEIN Werk!» Die Künstler waren in der CDU, die versammelt auf die Bühne rannten und noch nicht einmal die Scheinwerfer gesehen haben, als sie abgingen. Selbst Norbert Lammert hat sich über die Präsenz von Sperrholzplatten an den EU-Außengrenzen bzw. ihre Absenz zum 25. Jahrestag des Mauerfalls mehr aufgeregt, als dass ihm dieser Akt spontaner Solidarität von Erinnerungssymbolen mit der Gegenwart das Herz wärmte. Die «Künstler» waren eher die einhundert Bundespolizisten, die das Gorki-Theater in Berlin umstellt und nach Bolzenschneidern durchsucht haben. In einer Zeit, der die großen Menschenrechtler abhanden gekommen sind, muss Kunst die Mauern Europas zu Fall bringen, wenn es die Wirklichkeit nicht tut. Wenn die Künstler die sind, die die Macht haben, ein Werk abzubrechen, dann war das Zentrum für Politische Schönheit noch nie der Künstler. Wir verstehen uns als soziale Heizkräfte. Ich denke, das sieht uns der geneigte Zuschauer auch an. Es braucht ja nicht viel, die Rußspuren in den Gesichtern zu entdecken. Bis heute ist mir vor einer Aktion nicht klar, wer den Part des Publikums diesmal innehat. Jede Aktion besitzt ihre ganz eigene Konstellation. Jede Aktion jagt gesellschaftliche Kräfte aufeinander, die in einer Kettenreaktion die Welt tatsächlich verändern. Das ist so eine Art Billig-CERN, den wir da betreiben. Wir sind der Lidl unter den Teilchenbeschleunigern. Das Ergebnis ist physikalisch dasselbe.

MK: Jüngst stellte Wolfgang Ullrich infrage, ob das, was Ihr macht Kunst ist. Wie stellt Ihr Euch dem?

PR: Es ist nicht an mir, über so etwas wie den «Marsch der Entschlossenen» zu urteilen, dafür gibt es berufenere Kräfte wie Prof. Michael Diers, der soziale Plastiken bei Beuys noch aus nächster Nähe studieren durfte. Seinen Augen war abzulesen, was alle gesehen haben. Eigentlich hatte keiner mehr mit einer Renaissance des Happenings gerechnet, jedenfalls nicht so, wie Beuys sie sich vorgestellt hat. Aber der «Marsch der Entschlossenen», an dem urplötzlich Tausende Menschen Gräber in die Reichstagswiese buddeln und zwar so, dass der Rasen danach aussieht wie das Schlachtfeld von Verdun, sind mit dieser Gesellschaft eben doch noch zu machen. Es gab über 90 Festnahmen, mehr als am 1. Mai in Berlin. Das ist nicht anders als mit der Trance zu erklären, in die die soziale Plastik ihr Material wirft. Es gibt so vieles, womit der Zynismus einer deutschen Öffentlichkeit nicht mehr gerechnet hätte. Und doch ist es möglich. Wir sind eine Möglichkeitsanstalt. Wir machen Dinge möglich, die sich Intellektuelle wie Herr Ullrich mit einem sehr begrenzten Weltbild nie vorstellen können. Wir haben gegen den Widerstand der gesamten deutschen Bundespolitik Menschen in der Mitte Europas öffentlich geehrt, betrauert und beerdigt. Menschen, die bei ihrer Einwanderung an den viel zu hohen, viel zu weiten EU-Außengrenzen tödlich abgerutscht sind. Die Weitung der moralischen Phantasie Europas ist das Territorium der Kunst. Keine arbeitsteilige Gesellschaft kann auf die Künste verzichten und wir leben das mal eben vor.

MK: Ist Kunst ein besseres Vehikel, um Aufmerksamkeit zu erzeugen? Oder geht es auch um Freiheit, die man – ich unterstelle mal – als politische Organisation nicht hat?

PR: Es geht um Freiheit. Aber nicht im rechtlichen, sondern im intellektuellen Sinn – der CDU ihr inhumanes Mauerschutzprogramm, genauso wie der Linken ihre Borniertheit vorzuhalten. Die Kunst war und ist immer frei. Gute Kunst ist nicht nur politisch, sondern bildet gesellschaftliche Kräfte auch ab.

MK: Und noch mal handfester: Wie schätzt Ihr die Lage in Europa ein? Wird es humaner? Oder wird Frontex noch härter abdichten?

PR: Die Fahne der Europäischen Union kann ich nicht mehr sehen. Jedes Mal, wenn ich sie sehe, höre ich das Blut tropfen und muss den Blick senken. Es wird so weitergehen. Wir brauchen stärkeren Widerstand. Die Mauern müssen fallen. Wir sind so reich, dass wir uns den Luxus offener Landgrenzen leisten können. Wirtschaftsexperten sagen sogar, leisten müssen, wenn wir nicht wie Rom durch den demographischen Overkill niedergehen wollen.