Eine Plastiktasche für 500 Jahre

Wider die Herabwürdigung der Moderne

Zu Jahresbeginn veröffentlichte Eduard Beaucamp in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ eine Reflexion über den gegenwärtigen Zustand der Kunst. Zwei historische Phänomene macht er aus, um seine Forderung nach Neuem in eine Frage nach einem zu wagenden „Bruch und radikalen Neuanfang“ münden zu lassen: eine ausgelaugte Moderne, die der „Resteverwertung einer launischen Postmoderne preisgegeben“ sei, sowie die Korruption des Kunstgedankens durch „die marktläufige, erfolgssüchtige, derb materialistische Salonkunst unserer Tage“. Gleichermaßen die Forderungen an die Künstler im Jetzt. Die Kunst brauche „heute einen kräftigen Aufwind durch einen neuen Weltgeist, einen Frühling der Ideen und ein neues Ethos der Qualität“. Adressaten seiner Eingangsthese sind diejenigen, welche auch in Zukunft eine „substanzielle, individualistische und emanzipatorische Kunst“ wünschen und diese „für den Seelenhaushalt der Gesellschaft“ als notwendig erachten. Das sind recht markige Worte der Engführung und Verkürzung, die – so mutet’s an – im Kern in genau derselben „modernen“ Weise gedacht sind, die der Autor letztlich anprangert.

Was blendet eigentlich diese angestrengten Behauptungsprosa aus? Wo stehen wir denn genau, und wie benennen wir diejenige Phase, in der wir uns soeben bewegen? Kam vor der Jetztzeit wirklich die Postmoderne? Ist die Moderne beendet? Eine gewichtige Baustelle in der Kunstgeschichtswissenschaft ist das Problem der Periodisierung und die Aufstellung eines verbindlichen Kanons von Werken und Künstlern. Ist also die Postmoderne, die sich beispielsweise durch eine Ästhetisierung des historischen Zitats auszeichnete, also als beendet zu betrachten? Oder befinden wir uns noch in den Fängen einer unvollendeten Moderne?

Globalisierter Großtresor

Die Kunstkritik gebraucht in gewisser Hinsicht jene Begriffe anders als Philosophen oder Historiker, nämlich als Charakterisierung der Eigenschaften, meist stilistische Eigenheiten, der Kunstwerke, die mediale Aufmerksamkeit bekommen. Die Kunstgeschichte beschränkt sich in Sachen Moderne weitgehend auf das 20. Jahrhundert, während die andere Disziplinen den Beginn in die Renaissance oder die Zeit der Industrialisierung verorten. Über die Enden wird kontrovers diskutiert. Die Postmoderne wiederum mutet wie ein Schwellenphänomen an, das Aspekte der Moderne wie Galionsfiguren vor sich her trägt. Sie war ästhetisch und antiästhetisch zugleich. Auch sie beendet? Heute spricht man vom Zeitalter der Globalisierung. Während in der Philosophie und auch der Politikwissenschaft eben jene erdumspannende Veränderung im Zeitalter universeller 24/7-Kommunikation und -Transaktion bereits Gültigkeit beanspruchen vermag, lassen sich deren Züge in der Kunst nicht so leicht nachweisen. Doch die Kunst zeigt, dass ihr System global operiert. Jüngst sorgte beispielsweise die Zusage von Christie’s als Dauermieter im Freeport von Schanghai für die finanzielle Planungssicherheit eines asiatischen „Großtresors“. Im Freihafen lassen sich Wertgüter wie Kunst bombensicher lagern. Warum aber in Schanghai? Weil natürlich die Kunstmärkte durch den Boom Chinas eine Verlagerung offenbaren. Ein Indiz für den globalisierten Markt. Aber zeigt sich das Phänomen auch in der Kunst? Allan Sekula begann seine Fischereifotoserie („Fish Story“) schon vor Jahren. Ein ästhetisches Paradigma für eine globalisierte Kunst, die sich mit den Phänomenen der Globalisierung auseinandersetzt. Und dann die unterschiedlichen Kontinente und Länder, die Trendscouts plötzlich entdecken und in denen man aufdeckt, dass sich ihre Künstler – ob aus Afrika, China oder Indien – auch aus Schubladen der modernen Mittelchen bedienen, zitieren und sie zu Neuem, Anderem verarbeiten. Hier injizieren sich nun, dank der reibungslosen Kommunikation und günstigen Reisemöglichkeiten, unterschiedliche Kunstsysteme gegenseitig. So kommt es, dass beispielsweise eine Kunstkritik in Fernost auf der Strecke bleibt, weil sich der Wert eines Werks nur per Portemonnaie bemisst. Apropos! Wenn man heutzutage an der Moderne und ihren Nachfahren so lustarm herummäkelt und nach frischem Wind im kommerziellen Schweinkoben lechzt, ist das auch nur eins der vielen Beispiele von Uninformiertheit und Ignoranz.

Antiquierter Objektfetischismus

Dieser Diskurs blendet aus, dass es gleichwohl Sphären der Innovation gibt. Diese findet man unter anderem bei Künstlern, die sich der Medien annehmen und in und mit ihnen wiederum eine ganz neue Begriffe evozieren. Aber das Ephemere wie Mail Art oder Netzkunst subsumieren konservative Kritiker wohl kaum unter den Leitbegriff. Das Ärgerliche daran ist, dass sie ihr Rezeptionsverhalten erkennbar nicht umzustellen vermögen. Verhaftet in den alten Gattungen, huldigt die offizielle Kritik – Eduard Beaucamps ist nur ein Beispiel – gern einem Objektfetischismus, verlangt nach einer Erneuerung der Malerei, ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass das laufend geschieht. Mal sinnig, mal weniger. Aber da scheinbar abseitige Kunst, meinetwegen auf der Basis neuer Technologien, weder einen finanzstarken Markt besitzt, noch in der Öffentlichkeit eine Rolle spielt, sie überdies von ihren Protagonisten quasi aus dem „normalen“ System herausgehalten wird, braucht man sich nicht über die Forderungen jener zu wundern. Man beachte eben den Satz, dass eine durch Medien geprägte Welt ihre adäquate Ausdrucksform in und mit den Medien selbst findet. Dort geistert die Moderne nicht nur als Zombie in Form einer Neuauflage schaler Ismen oder generiert größenwahnsinnig Kapital, wie die „Kunst“ der Adepten eines falsch verstandenen Andy Warhol.

Sündige Tüte

Eins der schönsten Werke einer greifbaren, bildlichen und die Moderne reflektierenden Kunst ist eine Plastiktüte, die zu sehen, zu fühlen, zu denken gibt und dazu noch brauchbar ist: die Tragetasche für Aldi-Nord, gestaltet von Günter Fruhtrunk. Er selbst allerdings bezeichnete diese Tat vor seinen Studenten als Sünde. Bis heute hat noch niemand recht gedeutet, welche Dimension dieser Plastiktüte zukommt. Dieser Maler nobilitierte ein Objekt, dass durch Millionen von Händen getragen, durch Fußgängerzonen, in unzähligen Haushalten der Republik den asketischen Geist einer an formalen und optischen Phänomenen der Moderne interessierten Bildlichkeit brachte – und spiegelt dabei ferner wie kein anderes „Bild“ unsere konsumistisch versaute Gesellschaft. Dabei kostet sie fast nichts, ist also durchweg demokratische Kunst für alle. Sie ist Imago, eigentlich eher Konzeptkunst. Sie ist Druckgrafik und Multiple zugleich. Und hängt man das Stück dorthin, wo sie’s gut hat, hält sie bestimmt 500 Jahre durch. So lang wie kein einziges Medienkunstwerk.

Toleranzvermögen gefordert

Das ist eine Kunst der Gegenwart, der reflektierten Moderne, der Postmoderne und der Globalisierung. Was für ein genialer Streich ist dem 1982 in den Freitod gegangenen Künstler gelungen! Wer hingegen meint, man müsse nun endlich Schluss mit dem Modernismus machen, der verkennt, das von nichts nichts kommt. Und schaut man nur ein wenig abseits der Meinungen, dann findet sich auch in unseren höchst komplexen Zeiten das eine oder andere Wunderstück. Warum also sollte man immer wieder an den höchst sinnigen Begriffen und Auseinandersetzungen mit der Geschichte mäkeln, wenn man nur ihre schlechteren Auswüchse zur Kenntnis nimmt? Wem eben in Museen, Kunstvereinen oder auf Messen und während der Auktionen angesichts der dort exponierten und verhökerten Waren übel wird, muss sich ins Freie begeben: auf Festivals, ins Internet, in Off-Spaces oder Akademien. Ob er sich allerdings dann mit der Qualität zufrieden gibt, nach der es ihm dürstet, liegt am Toleranzvermögen und an der eigenen Sicht auf die Gegenwart und ihre Geschichte.