Sein Name sei…*

Bolee hat mir einen Text geschenkt. Der ist eine Reaktion auf die «Laubsätzertage». Er spinnt den Gedanken weiter, fügt eigene an und schafft eine schöne, leicht unheimliche Stimmung, die exzellent mit der Unbestimmtheit der Fotos und ihrer Abfolge harmoniert. Vielen Dank dafür, lieber Bolee.

«Der Himmel war grau
und es regnete Tage und Wochen. Hochwasser
führten der Bach und der Fluß.
Ein See dehnte sich zwischen Barbing und Pfatter,
doch keiner der Fährleute führte den Foam.»
Traditional [1]

Als dann der Junge verschwand, haben Sie die Reißleine gezogen. Es musste alles sehr schnell gehen. Es standen Wahlen vor der Tür, und einen Skandal konnte sich die Landesregierung nicht leisten. Also haben sie «Alles» auf dem Grund des Wassers versenkt und Beton darüber gegossen. Es grenzte an ein Wunder, daß das damals niemandem aufgefallen ist. Vielleicht weil damals das Gewerbegebiet an der Barbinger Straße gebaut wurde. Da fielen ein paar LKW mehr oder weniger gar nicht auf. Jetzt ist es save! Im Sommer angeln sie hier, und im Winter schaue ich hier gerne den Kindern beim Schlittschuhlaufen zu. Aber noch kann man die Spuren der Erdbewegung und die Reifenabdrücke der Lastwagen und Baufahrzeuge im Gelände sehen. Von der eigentlichen Bohrung zeugt heute nur noch der alte Messpunkt.

Später habe ich die Schuhe des Jungen im Dickicht gefunden; einen davon habe ich dann an mich genommen. Ich habe ihn mir um den Hals gehängt – er ist mir mein liebster Talisman geworden. Ich mag all die Dinge, die ich hier finde. So wie ich mir eine Kette aus den Knochen abgetrennter Fischköpfe gebastelt und mich mit Vogelfedern geschmückt habe. Das ist zwar irgendwie dysfunktional, aber ich kann nicht davon lassen. Ich mag alles was bunt, weich und oder organisch ist. Die Einheimischen spüren meine Präsenz – die Menschen hier haben noch Antennen dafür –, wenn etwas «Anderes» ist. Ein leichtes Flackern vor den Augen, ein unmerkliches Murmeln im Bach, etwas Seltsames, was mit dem Wind kommt, so dass sich einem plötzlich die Nackenhaare aufstellen. Sie nennen mich wohl den «Schwarzen Hund» – und ihre vierbeinigen Begleiter fangen leise an zu knurren, wenn sie meine Witterung aufnehmen – die lassen sich nicht so leicht über meine wahre Natur täuschen. Nach einer Geburt und zu Hochzeiten opfern Sie mir mit bunten Plastiktüten und allerlei Sachen, die sie ins Dickicht werfen, um meinen Segen zu erbitten – so ganz katholisch sind sie hier im Donaubogen nie geworden. Das ist Aberglaube, so wie sie auch Totemtiere in ihren Vorgärten aufstellen. Die Giraffe: Mittler zwischen Herz und Verstand. Aber ich mag das Bild von dem Pandabären auf meiner neuen Plastiktüte.

Nach dem Jungen haben sie lange gesucht. Die Polizei kam und hat alles Mögliche mit weiß-rotem Flatterband abgesperrt und achtlos die Pilze umgetreten. Sie hatte nie eine Chance! Zu vielfältig waren die Möglichkeiten, und alles konnte mit einem Mal bedeutungsvoll sein. War der weiße Eimer ein Indiz oder doch nur Plastikmüll? Ich hätte es Ihnen sagen können, aber das ist nicht meine Aufgabe. Auch die alte Frau hätte es Ihnen sagen können, aber mit den Fremden aus der Hauptstadt spricht sie nicht: «Z’ Rengschbuag redt ma anderscht» – hat sie zu Ihnen gesagt, und danach haben sie kein Wort mehr aus ihr herausbekommen. Der alten Frau schneide ich ab und zu die Rosen; aus Dankbarkeit dafür, stellt sie mir nachts eine Kerze ins Fenster. Auch wenn ich kein Gärtner bin, so ist das Schneiden doch Teil meiner Berufung. So zogen die Kriminalen dann irgendwann unverrichteter Dinge wieder ab. Zu Ihrem Glück! Denn sonst hätte ich einschreiten müssen.

Schließlich habe ich auch den Jungen gefunden, das Schnattern der Gänseschar auf den Feldern brachte mich auf seine Spur. War kein schöner Anblick! Ich entsorgte das, was von Ihm übrig war, mitsamt seines schwarz-beigen Biwaksacks ins Wasser. Jetzt schwimmen die Enten über seine letzte Ruhestätte hinweg. Ich habe ein paar letzte Worte gesprochen: «Broken hearts make it rain!» Ich sitze hier oft am Ufer und warte bis das Wasser ganz ruhig ist. Dann steigt das Wort in mir hoch – es ist ein erstes Wort, ein zartes Wort »Selbst»!

Es hat wieder zu regnen begonnen, und mit dem Regen kommen die Fluten. Weißer Schaum hat sich auf der Oberfläche der grauen Wasser gebildet, und ich kann sein Pulsieren spüren – es will hinaus, aber ich bin vorbereitet und ich habe keine Angst.

Control ruft mich den «Fährmann» aber mein Name sei «Laubsätzer» – I’m a good machine.

Bolee, https://www.taumelland.de/

[1] Schüler:innen der Realschule Neutraubling: Sagen und Schwänke aus dem Regensburger Südosten. Festgabe zum 60. Geburtstag von Direktor Josef Schmidt. Zgl. Beiträge zur Geschichte des Landkreises Regensburg, Heft 16, 1977, hrsg. v. Josef Fendl (Kreisheimatpfleger, Neutraubling), S. 4.

* Der Titel stammt von mir. Bolee wiederum hat den Text verfasst und dem Ort hier gespendet. Ich danke hier nachdrücklich. Es ist wundervoll, dass er sich die Zeit genommen hat, meine vornehmlich visuellen Andeutungen als Ausgangspunkt für eine eigene Kontextualisierung der Nicht-Geschichte zu nehmen. Außerdem freut es mich, dass er, der ein paar Hundert Kilometer nördlich von hier wohnt, recherchiert hat und mir dann den Weg zu einem 1977 erschienenes Bändchen mit lokalen Sagen, das dankenswerterweise online zur Verfügung steht, gewiesen hat.