Begriffsbildungen

Hubertus Butin hat nach 13 Jahren eine Neuauflage seines «Begriffslexikons zur zeitgenössischen Kunst» vorgelegt. Sämtliche Artikel wurden von den Top-Autoren überarbeitet und 20 neue Lemmata sind hinzugekommen. Doch funktioniert ein solches Vorhaben, um in die vielstimmigen Diskurse künstlerischen Schaffens einzusteigen?

«Die größte Herausforderung bei dem Projekt war die Suche und Auswahl der Begriffe», beschreibt Hubertus Butin. Der freie Berliner Kunsthistoriker und Kurator hat seinem Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, das in der ersten Auflage vor 13 Jahren im DuMont Buchverlag erschien, eine tief greifende Überarbeitung verpasst und vergangenes Jahr im Kölner Snoeck Verlag veröffentlicht. Numerisch spiegelt sich die Anpassung an die Gegenwart im Zuwachs von 55 Seiten. Nun ist das Nachschlagewerk 375 Blatt stark und bietet eine profunde Einsicht in den gegenwärtigen Diskurs der zeitgenössischen Kunst. Und es ist nur zu deutlich, dass die Determination von Terminologien in Zeiten des Unsteten und des Fluiden keine leichte Übung darstellt.

Alle bisherigen Autoren haben laut Butin «ihre Texte selbst überarbeitet, erweitert und aktualisiert». In der jetzt vorliegenden Ausgabe sind 20 neue Stichworte hinzugekommen, darunter aktuelle Erscheinungen wie die Relationale Ästhetik, die Urheberrechtsproblematik oder Künstlerische Forschung. Eher rückwärtsgewandte Strömungen wie Happening, Nouveau Réalisme oder Wiener Aktionismus werden gleichfalls dargestellt. Also Erscheinungen, die zwar immer noch Wirkungen in der Gegenwart entfalten, aber eigentlich längst historische Phänomene sind. Aber klar, wenn Land Art auch noch an Bord ist, warum dann nicht diese künstlerischen Praktiken? Womit wir wieder beim Kern der Angelegenheit sind: Was gehört hinein, was nicht? Das ist das Drama mit den Begrifflichkeiten in der Kunstwissenschaft. Begriffe prädizieren Phänomene und sind funktional naturgemäß nicht wie Eigennamen oder Wörter für Gegenstände zu verstehen. Die Signifikate changieren mit Blick auf die Gegenwart schneller als in der Vergangenheit, das ist ja ein Gemeinplatz. Wie aber lässt sich dennoch die Kunst unserer Zeit auf den Begriff bringen?

Hubertus Butin studierte Kunstgeschichte in Bonn und Zürich und gilt als ein profunder Kenner des Werks von Gerhard Richter, in dessen Atelier er zwei Jahre als kunsthistorischer Assistent arbeitete. Ebenfalls 2014 veröffentlichte er mit Stefan Gronert und Thomas Olbricht dessen Werkverzeichnis der Editionen. Ein ganzes Jahr hat die Arbeit an der Neufassung des Begriffslexikons gedauert. Das Vorgehen spiegelte allerdings schon damals einen disziplinübergreifenden Ansatz, der in der jetzigen Fassung nach wie vor zur Entfaltung kommt, etwa durch die Texte von Diedrich Diedrichsen (Kunst und Ökonomie) oder Ulf Poschardt (Kunst und Mode). Und immer noch besitzen die einzelnen Stichworte eher den Charakter von Essays, die sich außerdem in der Regel, weil leicht verständlich, angenehm lesen lassen. Hinzu tritt die Güte der Autorenschaft, die anzeigt, dass hier die Erste Bundesliga versammelt ist. Butin gelingt es, die derzeit wichtigsten Denker zu versammeln. Beispielsweise betreut im historisch angelegten, dreiteiligen Spannungsfeld zwischen Kunst und Politik nun Kerstin Stakemeier das 21. Jahrhundert auf profunde und erhellende Art und Weise.

Nicht alle denkbaren Lemmata sind vorhanden. Wie könnte das auch sein? Es gibt eine Menge Literatur auf dem Markt, die der Hybris des Allwissendseinwollens anheim fallen und ihrer Unsinnigkeit erliegen. Holger Liebs, der übrigens mit einem Eintrag zur Young British Art dabei ist, nannte sie einmal Machete-Literatur, weil sie in ihrer Hau-Ruck-Rhetorik scheinbar gültige Schneisen des Wissens durchs Dickicht der Gegenwart in Form von Kanones schlagen will. Das versucht das Begriffslexikon zum Glück in keiner Weise. Es ist nämlich auch deswegen angenehm, weil es so vielstimmig daher kommt.

Jedoch wird ein Eintrag, der sich technisch basierten Künsten widmet, schmerzlich vermisst: Digitalität. Mit Blick auf gerade jüngste künstlerische Arbeit sehr bedeutsamer Aktivisten wie der Schweizer !Mediengruppe Bitnik oder den renommierten und in den so genannten sozialen Netzwerken stets präsenten Yes Men, aber auch etablierten Künstlern der Netzkunstszene wie Mark Amerika oder Cornelia Sollfrank, fehlen derartige Positionen schlichtweg zu Unrecht in den meisten gegenwartsrelevanten Publikationen. Übrigens auch deswegen, weil ihnen in der Regel jede Form der Merkantilität abgeht. Dies allerdings im Unterschied zu den neuer künstlerischer Arbeit im und mit dem Internet der jetzt in die Szene drängenden Digital Natives. Doch wie ambivalent die Szene ist, wenn man aufs Werk von Künstlern wie Anthony Antonellis, Kim Asendorf, Parker Ito, Jonas Lund oder Rafaël Rozendaal oder in die ziemlich lebendige Kunstszene in Portland, in der etwa Petra Cortright unterwegs ist, schaut. Die Künstler dort setzen sich mit soziologischen, aber auch modernistisch-formalistischen Fragen, mit 3D-Druck und anderen Techniken auseinander und spiegeln mit ihrer bisweilen übertriebenen Überaffirmation Strukturen und Regeln einer unserer komplett durchökonomisierten Gesellschaft. Womit sie zum Brennglas des gegenwärtigen kulturellen Daseins mutieren. Doch abgesehen von dieser Leerstelle, die vielleicht in einer kommenden Ausgabe gefüllt werden wird, ist das Begriffslexikon eine enorme Hilfe, um zur Polyphonie der zeitgenössischen Kunst einen angemessenen Zugang zu bekommen.

Hubertus Butin (Hrsg.): Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst. Köln (Snoeck) 2014, 376 S., 150 S/W-Abbildungen, Format 28 x 21 cm, Softcover, ISBN 978-3-86442-100-6,24,80 Euro